Die 64 Neijing-Übungsmethoden nach Wang Yongquan

Schachfiguren als Metapher für Neijing-Techniken

Die 64 Neijing-Übungsmethoden (六十四种内勁練法) nach Wang Yongquan sind ein hochinteressantes Thema auf fortgeschrittenem Niveau. Es kann unter Umständen die Tür zu einer ganz neuen Welt in der eigenen Tai Chi-Praxis öffnen und das Verständnis erweitern und vertiefen.

Was ist Neijing?

Zunächst ist es sinnvoll, den Begriff Neijing zu klären. Im Chinesischen schreibt es sich 内勁, in vereinfachter Schreibweise 内劲. Das erste Zeichen 内 bedeutet „innen“, das Zeichen 勁 steht für „Kraft“ oder „Energie“. Es ist eine innere Kraft bzw. Energie gemeint, die nicht ausschließlich auf äußerer Muskelkraft beruht. Auf körperlicher Ebene wird zwar der gesamte Körper ganzheitlich in die Bewegung integriert und folgt dabei bestimmten Prinzipien wie beispielsweise der unbedingt notwendigen Zentrierung (zhong ding 中定). Aber dies ist nur die Voraussetzung, sozusagen das äußere Gefäß. Der entscheidende Teil liegt im Innern und ist von außen nicht sichtbar. Dies bedeutet, dass sich das Neijing überwiegend auf geistig-mentaler Ebene abspielt.
Neijing hängt eng mit dem Begriff Neigong (内功) zusammen, was so viel wie „innere Arbeit“ bedeutet. Auch hier ist eine von außen nicht sichtbare Arbeit gemeint. Regelmäßige Neigong-Übung führt daher zur Entwicklung des Neijing.

Die Harmonie von Innen und Außen

Als nächstes ist wichtig zu verstehen, dass es bei den Bewegungen den Unterschied zwischen Innen und Außen gibt. Mit dem Außen ist die äußerlich sichtbare Bewegung gemeint, z. B. das An (按) als Push nach vorne. Diese äußere Bewegung steht aber nicht isoliert für sich alleine, sondern wird durch einen inneren Impuls initiiert. Es gilt die Grundregel, dass das Innen das Außen bedingt, d. h. die Bewegung im Innern ist die Grundlage für die nach außen sichtbare Bewegung. Dies ist gemeint, wenn Yang Chengfu in seinen „Zehn Grundregeln des Taijiquan“ im achten Punkt auf die Harmonie von Innen und Außen (neiwai xianghe 内外相合) hinweist.
Als alternative Begriffe könnte man „Innen“ als Yin und „Außen“ als Yang bezeichnen. Damit wird das grundlegende Yin Yang-Prinzip deutlich, dass das Yin stets die Grundlage des Yang bildet.

Übliche innere Modelle

Sofern überhaupt innere Modelle für die nach außen sichtbare Tai Chi-Bewegung eingesetzt werden, sind diese Modelle meist durchgängig für die ganze Tai Chi-Form. Ein Beispiel ist das Modell des inneren Rads, das sich kontinuierlich durch die ganze Tai Chi-Form zieht. Die inneren Verbindungen, mit denen das Rad1 in den einzelnen Bewegungen in Gang gesetzt wird, unterscheiden sich zwar je nach Bewegung. Aber das Grundmodell an sich bleibt unverändert.

Solche für die ganze Tai Chi-Form einheitlichen inneren Modelle sind viel Wert und erfüllen definitiv die Vorgabe der Harmonie von Innen und Außen. Mit dem inneren Rad bzw. Ball ist man in der Lage, sehr flexibel auf alle möglichen äußeren Impulse zu reagieren. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Impuls des Partners bzw. Angreifers aus einer rein äußerlichen Bewegung ohne innere Grundlage besteht. In diesen Fällen ist das Prinzip des inneren Rads, sofern es einigermaßen korrekt ausgeführt wird, stets überlegen.

Aber wie sieht es aus, wenn das einheitliche Grundmodell von einem erfahrenen Partner oder Angreifer „detektiert“ und gekontert wird? Im Training kommt diese Situation in der Regel nicht vor. Entweder der Partner verwendet bei Tests überhaupt kein inneres Modell oder aber es handelt sich stets um das gleiche Modell. Ein Test mit einem alternativen Modell kommt üblicherweise nicht vor.

Werkzeugkasten und Schachfiguren

Sifu Dr. John Fung vergleicht die Neijing-Prinzipien mit einem Werkzeugkasten. Es ist hilfreich, wenn man je nach Situation verschiedene Werkzeuge zur Verfügung hat. Einen Nagel kann man am besten mit einem Hammer einschlagen. Für eine Schraube nimmt man den passenden Schraubendreher und für das Durchsägen eines Bretts bietet sich eine Säge an. Auf diese Weise bleibt man flexibel und kann die entsprechenden Aufgaben ausführen.

Verfügt man jedoch nur über ein einziges Werkzeug, kann dies je nach Situation zu Problemen führen. Ein schweizer Offiziersmesser ist zwar ein ausgesprochen nützliches Multitool, aber einen Nagel kann damit beispielsweise nur schlecht einschlagen. Dafür ist jeder beliebige Hammer besser geeignet.

Ein anderes eingängiges Bild sind die Figuren im Schachspiel. Es stehen verschiedene Figurenarten zur Verfügung, die mit ihren unterschiedlichen Zugmöglichkeiten flexibel und strategisch gut überlegt im Spiel eingesetzt werden können. Und auch wenn die Dame die stärkste Figur ist, so kann sie problemlos von einem Springer geschlagen werden. Es kommt also darauf an, die verschiedenen Figuren sinnvoll miteinander zu kombinieren, statt sich zu einseitig auf eine Figur zu konzentrieren.

Die 64 Neijing-Methoden

In der Traditionslinie nach Wang Yongquan steht statt einem einzigen Grundmodell eine ganze Palette an Neijing-Prinzipien zur Verfügung. Ein Beispiel dafür sind die acht Grundtechniken mit ihrer inneren Energetik.

Alle acht Grundtechniken (Peng, Lu, An, Ji, Cai, Lie, Zhou, Kao) haben eine speziell definierte innere Energetik, die sich ausschließlich auf der geistig-mentalen Ebene abspielt. Am Anfang geht es zunächst darum, alle Versionen mit der entsprechenden äußeren Bewegung einzeln einzuüben. Also zum Beispiel die Peng-Bewegung mit der entsprechenden Peng-Energetik oder die Lu-Bewegung mit der Lu-Energetik.

Hat man sich auf diese Weise mit den Bewegungen vertraut gemacht, geht man einen Schritt weiter und kann die äußeren Bewegungen mit anderen inneren Energetiken kombinieren. So kann man beispielsweise die äußere Peng-Bewegung mit der inneren Ji-Energetik ausführen. Auf diese Weise ergeben sich für die acht Grundtechniken 8 x 8 = 64 unterschiedliche Kombinationsmöglichkeiten. Es entsteht also ein ausgesprochen vielteiliger Werkzeugkasten. Der Zweck besteht darin, dass man zum einen ein ganz anderes Verständnis für die Bewegungen bekommt. Die äußere Form spielt keine so große Rolle mehr, sondern es kommt vielmehr auf die innere Energetik an. Außerdem ist es für einen Partner erheblich schwieriger, das innere Modell zu erkennen. Ganz nach dem Tai Chi-Motto „Ich kenne den anderen, aber der andere kennt nicht mich“.

Aber selbst damit ist das Ende noch nicht erreicht. Denn in einem weiteren Schritt kann man nun hergehen und verschiedene innere Energetiken miteinander kombinieren und gleichzeitig einsetzen. Damit wird der Werkzeugkasten noch variabler und es ist kaum noch möglich, von außen gelesen zu werden.

Die Arbeit an diesen Neijing-Techniken verlangt Geduld und Kontinuität. Die Schwierigkeit liegt darin, dass man es nicht körperlich greifen kann. Feinarbeit auf der körperlichen Ebene, zum Beispiel das korrekte Verlagern des Gewichts oder die Atmung, sind vom Körpergefühl her wesentlich konkreter und zugänglicher. Ebenso ist es nicht ganz so einfach, das richtige Maß an Konzentration zu finden. Weder ein zu wenig noch ein zu viel sind hilfreich. Hier hilft nur beharrlich am Ball zu bleiben, dann wird sich auch ein positives Ergebnis einstellen. Es lohnt sich, denn es sind diese Art der Neijing-Techniken, welche die höheren und subtileren Stufen des Yang-Stils ausmachen.

  1. Andere Bezeichnungen sind der Ball oder auch die Tai Chi-Sphäre. ↩︎