Das Wuwei-Prinzip

Eines der bekanntesten Prinzipien der daoistischen Philosophie ist das so genannte Wuwei-Prinzip. Es bezieht sich nicht nur auf Tai Chi oder Qigong, sondern auf alle denkbaren Lebensbereiche. Tai Chi und Qigong sind jedoch effektive Methoden, dieses Prinzip erfahrbar zu machen.

Oft wird Wuwei mit „Nicht-Handeln“ oder „Nicht-Tun“ übersetzt. Der chinesische Begriff wuwei (無為, in vereinfachter Schreibweise 无为) setzt sich aus zwei Schriftzeichen zusammen. Das erste Zeichen steht für eine Negation und bedeutet „nicht“ oder „ohne“. Das zweite Zeichen hat die Bedeutung von „tun“, „machen“ oder „handeln“. Daher die häufige Übersetzung als „Nicht-Tun“ wie beispielsweise im folgenden Vers bei Laozi:

道常無為而不為。
Das Dao ist Nicht-Tun, und doch bleibt nichts ungetan.
Laozi, Daodejing, Vers 37

Das „Nicht-Tun“ kann jedoch leicht im Sinne einer reinen Passivität missverstanden werden. Man braucht nichts zu tun und nur abzuwarten, dann wird sich schon alles richten. Aber dies ist nicht mit „Nicht-Tun“ gemeint. Eine greifbarere Übersetzung ist „nicht forcieren„. Denn dabei wird klar, dass gehandelt wird, nur eben ohne es zu erzwingen. Es also nicht mit der Brechstange zu versuchen, sondern auf kluge Weise und ohne unnützen Aufwand zum Ziel zu gelangen.

Ein gutes Beispiel sind handwerkliche Tätigkeiten. Beim Sägen eines Holzstückes oder beim Holzhacken kann man sich mit zu viel Krafteinsatz regelrecht verausgaben. Besser ist es, mit geschickter Technik vorzugehen und nur so viel Kraft aufzuwenden, wie notwendig ist.

Mit vier Tael tausend Pfund abwehren

In den alten Tai Chi-Schriften gibt es eine Passage, die das Wuwei-Prinzip andeutet:

察「四兩撥千斤」之句,顯非力勝,觀耄耋能禦眾之形,快何能為。
Beachte den Satz „Mit vier Tael eintausend Pfund bewegen“; offensichtlich ist der Gewinner nicht die Stärke. Wenn Du einen alten Mann siehst, der mit mehreren Gegnern fertig wird, wie schnell kann er dann sein?
Wang Zongyue, Tai Chi Treatise

Wenn man die alten chinesischen Gewichtseinheiten Liang (兩) und Jin (斤) in unsere heutigen Gewichtseinheiten umrechnet, sind es rund 150 g, die eine Kraft von 600 kg bewegen. Der wörtlich übersetzte Ausdruck „Mit vier Tael eintausend Pfund bewegen“ wird allgemein auch im Sinne von „Mit wenig Aufwand viel erreichen“ übersetzt.

Auf eine große Krafteinwirkung selbst mit großer Kraft zu reagieren, macht wenig Sinn. Besser ist es, nicht zu forcieren (Wuwei) und mit Klugheit und Geschick die große Kraft ins Leere laufen zu lassen. Dafür reicht eine im Verhältnis kleine Kraft aus.

Dieses Prinzip spielt bei den Partnerübungen im Tai Chi eine wichtige Rolle. Allerdings ist dies leichter gesagt als getan. Es braucht Geduld und Übung und vor allem die richtige Vorstellung, bis sich alte Bewegungs- und Reaktionsmuster auflösen und in eine effektivere Form umwandeln können. Dabei lernt man viel über sich selbst – die Voraussetzung, dass man auch sein Gegenüber lesen und verstehen kann.

Wahrhaftiges und gekünsteltes Wuwei

Bei der Anwendung des Wuwei-Prinzips gibt es allerdings eine Schwierigkeit. Oder vielmehr eine Falle, in die man nur zu leicht tappen kann. Denn auch der Versuch, das Wuwei-Prinzip umzusetzen, kann ebenfalls in ein Forcieren abdriften. Dies ist vergleichbar mit der Tugend, von der es im Daodejing heißt:

Ein Mensch mit überlegener Tugend ist sich seiner Tugend nicht bewusst. Und auf diese Weise besitzt er wahrhaftige Tugend. Ein Mensch von minderer Tugend verliert seine Tugend nie aus den Augen, und so verliert er seine Tugend.
Laozi, Daodejing, Vers 38

Der Unterschied ist leicht zu verstehen, wenn Sie sich zum Beispiel eine Musikerin oder eine Tänzerin vorstellen. Im Fall des gekünstelten Wuwei mag eine Darbietung technisch perfekt sein, aber es wirkt zu sehr gewollt. Die Darbietung ist schön anzusehen oder anzuhören, aber sie erreicht einen innerlich nicht. Im Fall des wahrhaftigen Wuwei nimmt man das Wollen nicht mehr wahr und man ist von der Darbietung unter Umständen zu Tränen gerührt.

Künstlerische Bereiche wie Tanz oder Musik sind gute Beispiele für das Wuwei-Prinzip.

Wenn man in das Tai Chi neu einsteigt, sind die Bewegungen anfangs ungelenk und hölzern. Es braucht eine Weile, bis man sich an die Bewegungen gewöhnt hat. Dann lernt man, wie verschiedene Prinzipien in die Bewegungen integriert werden. Ist dies ausreichend eingeübt, gelangt man an einen Punkt, an dem die Tai Chi-Form technisch gut ausgeführt wird. An diesem Punkt darf man dann aber nicht stehenbleiben, sondern versuchen das Wollen loszulassen und das Wuwei-Prinzip zu verwirklichen. Bei der Praxis stellt sich dann ein besonderes Gefühl ein. Es tut nicht nur auf der körperlichen Ebene gut und man fühlt sich hinterher vital und erfrischt. Zusätzlich spürt man ein Gefühl tiefer Zufriedenheit und Vollkommenheit.

Natürlichkeit

Das Wuwei-Prinzip hängt eng mit einem anderen Begriff zusammen, dem Begriff für „natürlich“ bzw. „Natur“ (ziran 自然). Zi bedeutet „selbst“ und ran „so sein“. Die Natur ist also etwas „selbst so Seiendes“. Wenn die Sonne scheint, dann scheint sie aus sich selbst heraus, ohne weitere Anstrengung. Wenn der Wind weht, weht er aus sich selbst heraus und benötigt dafür keine besondere Mühe. In der Natur folgen alle Phänomene dem Wuwei-Prinzip, so zum Beispiel auch eine sich öffnende Blüte. Es wird nur der Aufwand betrieben, der für das Öffnen notwendig ist und es gibt kein Getue darum. Wenn der Zeitpunkt gekommen ist, öffnet sich die Blüte einfach – vollkommen natürlich.

Diese Art der Natürlichkeit ist auch im Tai Chi ein Qualitätsmerkmal und dies gilt auch für den gesamten Lernprozess an sich. Man kann nichts erzwingen, sondern nur im rechten Maß daran arbeiten. Die Lernerfolge stellen sich dann ganz von selbst ein.

Das Wuwei-Prinzip in der Natur: Eine Blüte öffnet sich auf ganz natürliche Weise.