Die drei Pforten

Ein wichtiges Grundprinzip in der Tai Chi-Praxis ist die Verbindung von oben und unten, d.h. Ober- und Unterkörper bilden eine Einheit. Yang Chengfu geht in seinen „Zehn Grundregeln des Taijiquan“ im siebten Punkt darauf ein: „Synchronisierung von Ober- und Unterkörper“ (上下相随; wörtlich: „Oben und unten gehen wechselseitig einher“). Die so genannten drei Pforten unterstützen die körperliche Umsetzung dieses Grundprinzips.

Die drei Pforten (san guan 三關, in vereinfachter Schreibweise 三关) sind ein zentrales Konzept im Daoismus, das auch außerhalb des Tai Chi in diversen Praktiken zur Selbstkultivierung zum Tragen kommt. So finden sich die drei Pforten auch im Neijing Tu1 (內經圖, vereinfacht 內经图), einer daoistischen Darstellung des menschlichen Körpers als Landschaft. Hier eine Abbildung des Neijing Tu, in der die drei Pforten rot markiert sind:

Die drei Pforten im Neijing Tu

Konkret handelt es sich um die drei Pforten „Weilü-Pforte“ (weilü guan 尾閭關, auch untere oder erste Pforte genannt), Jiaji-Pforte (jiaji guan 夾脊關, auch mittlere oder zweite Pforte genannt) und die Jadekissen-Pforte (yuzhen guan 玉枕關, auch obere oder dritte Pforte genannt). Die folgenden Abschnitte gehen kurz auf die einzelnen Pforten und ihr Zusammenspiel ein.

Die Weilü-Pforte

Mit der Weilü-Pforte ist das Steißbein gemeint, wobei auch das Kreuzbein und der untere Rücken in diesem Zusammenhang mit einbezogen werden. Wang Zongyue schreibt im „Lied zu den 13 Energien“ (shisan shige 十三勢歌) zur Weilü-Pforte:

尾閭中正
Das Steißbein ist zentriert und aufrecht.

Dies bedeutet, dass das Steißbein so ausgerichtet wird, dass Kreuzbeinbereich und unterer Rücken sanft gedehnt werden. Insbesondere im unteren Rücken stellt sich ein Gefühl der Lockerheit und Durchlässigkeit ein. Da bei vielen Menschen die für die Beweglichkeit der Hüfte zuständigen Muskeln verkürzt sind, braucht es oft eine gewisse Zeit an Tai Chi-Praxis, bis man diese Haltung korrekt umsetzen kann.

Das Öffnen der Weilü-Pforte hat einen positiven Einfluss auf das Lenden-Kreuz-Geflecht (Plexus lumbosacralis). Dieses setzt sich aus dem Lendengeflecht (Plexus lumbalis) im oberen Bereich und dem Kreuzgeflecht (Plexus sacralis) im unteren Bereich zusammen. Das Lendengeflecht bezieht sich auf die Wirbelsäulensegmente L1-L3 mit einzelnen Fasern aus Th12 und L4. Es versorgt z. B. die Bauchwandmuskulatur, den Genitalbereich und die vorderen Oberschenkel. Das Kreuzgeflecht bezieht sich auf die Segmente L5-S3 mit einzelnen Fasern aus L4 und S4. Es ist für die Versorgung der Hüft-, Gesäß- und Beckenbodenmuskeln, für die Muskeln auf den Rückseiten von Ober- und Unterschenkel und für die Fußmuskulatur zuständig.

Lendengeflecht (linkes Bild) und Kreuzgeflecht (rechtes Bild)

Auch das Steißbeingeflecht (Plexus coccygeus) spielt mit hinein, schließlich verweist ja die Weilü-Pforte unmittelbar auf das Steißbein. Dieses Nervengeflecht wird von den ventralen (bauchseitigen) Ästen des vierten und fünften Sakralnervs (S4-S5) und dem ventralen Ast des Nervus coccygeus gebildet. Letzterer versorgt das Hautareal zwischen Steißbein und Anus.

Das Öffnen der Weilü-Pforte sorgt insgesamt für eine optimale Verbindung von Ober- und Unterkörper. Außerdem trägt es wesentlich dazu bei, dass sich eine regelmäßige Tai Chi-Praxis positiv auf den unteren Rücken auswirkt.

Die Jiaji-Pforte

Die Jiaji-Pforte fungiert als Verbindung zwischen unterer und oberer Pforte. Auch die Jiaji-Pforte muss geöffnet werden, damit die Verbindung in der Rückenmitte nicht unterbrochen wird. Der Begriff Jiaji setzt sich aus den Zeichen Jia (夾) für „von zwei Seiten eingeklemmt sein“ und Ji (脊) für „Wirbelsäule“ zusammen. In der chinesischen Medizin werden damit Punkte auf beiden Seiten der Wirbelsäule bezeichnet, welche die Wirbelsäule rechts und links quasi einfassen. Die 17 Punkte auf jeder Seite erstrecken sich vom ersten Brustwirbel bis zum fünften Lendenwirbel.

Bei den bereits anfangs erwähnten „Zehn Grundregeln“ von Yang Chengfu steht die zweite Regel „In der Brust halten und den Rücken hochziehen“ (含胸拔背) mit der Jiaji-Pforte in Verbindung.

Die Jadekissen-Pforte

Im alten China wurden aus Jadestein angefertigte Kopfstützen verwendet. Diese hatten den Ruf, für einen tiefen und erholsamen Schlaf zu sorgen, weil sich die Eigenschaften der Jade positiv auf den Organismus auswirkten. Liegt der Hinterkopf auf einem solchen „Kissen“ auf, haben insbesondere zwei Stellen Kontakt mit dem Stein. Daher hat man diese Stellen am Hinterkopf „Jadekissen“ genannt.

Die Jadekissen-Pforte als oberste Pforte sorgt dafür, dass die Verbindung vom Steißbein über den Rücken bis hinauf in den Kopf reichen kann. Das Öffnen dieser Pforte steht ähnlich wie bei der Weilü-Pforte mit Nervengeflechten im Zusammenhang: Dem Armgeflecht (Plexus brachialis) und dem Halsgeflecht (Plexus cervicalis).

Das Armgeflecht bezieht sich auf die Segmente C5-C8 und Th1 und versorgt Arme, Schultern und Brust. Die folgende Illustration zeigt eindrücklich, wie die Nerven von der Wirbelsäule über die Schulter in den Arm verlaufen:

Das Armgeflecht (Plexus brachialis) versorgt Arme, Schultern und Brust

In den Endästen dieses Nervengeflechts befinden sich beispielsweise Nerven wie der Mediannerv (Nervus medianus) oder der Nervus ulnaris, beide sowohl motorisch als auch sensibel wichtig für die Unterarme und Hände.

Das Halsgeflecht schließlich bezieht sich auf die Segmente C1-C4 mit Anteilen von C5. Es versorgt unter anderem Hals, Teile der Zungenmuskulatur und das Zwerchfell.

Zusammenspiel der drei Pforten

Durch das Öffnen aller drei Pforten entsteht eine lückenlose Verbindung vom Steißbein bis zum Scheitel. Wang Yongzue beschreibt die Wirkung im „Lied zu den 13 Energien“ wie folgt:

神貫頂,滿身輕利頂頭懸
Shen durchdringt den Scheitel, der ganze Körper ist leicht und agil, der Scheitel hängt von oben herab.

Ist die Haltung korrekt und kann man die drei Pforten öffnen und miteinander verbinden, entsteht in der Tat ein besonderes Körpergefühl. Man nimmt den Körper von Kopf bis Fuß sehr präsent wahr und hat das Gefühl, dass alles miteinander verbunden ist. Auch auf dem Scheitel verändert sich die Wahrnehmung.

Physiologisch könnte man es so interpretieren, dass die Feinjustierung des Körpers alle oben genannten Nervengeflechte sanft weitet. Dadurch entsteht eine optimale Leitfähigkeit der betroffenen Nerven, was sich sowohl auf motorischer als auch auf sensibler Ebene auswirkt.

Wenn man in einer ungünstigen Position geschlafen hat, kann der Arm taub werden, weil das Armgeflecht und damit die Nervenverbindungen eingeklemmt werden. Denkt man umgekehrt und alle Nervengeflechte sind optimal geöffnet und durchlässig, entsteht eine positive Wirkung. Die Nerven können die Reize bestmöglich übertragen und man hat eine bessere Kontrolle über die Bewegungen und ein besseres Gefühl.

Schaut man sich die o. g. Nervengeflechte im Gesamtzusammenhang an, könnte es sein, dass mit dem Öffnen der drei Pforten das gesamte periphere Nervensystem stimuliert wird. Eine geniale Methode der alten Meister, positiven Einfluss auf das Nervensystem auszuüben.

Zentrales und peripheres Nervensystem

Eine andere Darstellung ist die Übersicht der Dermatome, d. h. der von den Spinalnerven versorgten Hautsegmente. Auch hier liegt die Vermutung nahe, dass mit den drei Pforten nahezu alle Dermatome stimuliert werden:

Übersicht der Dermatome
Übersicht der Dermatome

Die für das Öffnen der drei Pforten erforderliche Feinjustierung des Körpers ist subtil. Ein wenig das Becken zu kippen und den Kopf aufrecht zu halten, reicht nicht aus. Die drei Pforten während des gesamten Formablaufs geöffnet zu halten, ist ebenfalls anspruchsvoll. Aber mit Geduld und Übung ist es umsetzbar und man wird mit einer deutlich verbesserten Bewegungsqualität belohnt.

Interessant ist, dass die drei Pforten im alten Yang-Stil nach Wang Yongquan dynamisch eingesetzt werden. Es gibt fünf verschiedene Versionen, die in Abhängigkeit zur jeweiligen Bewegung zur Anwendung kommen.

Weitere Aspekte: Tigang und „Elsterbrücke“

Zwei weitere Aspekte stehen im engen Zusammenhang mit den drei Pforten. Zum einen die Übungsanweisung, den Anus2 leicht nach oben zu ziehen (tigang 提肛). Zum anderen, dass die Zunge am Gaumen anliegen soll, was auch als „Elsterbrücke“ bezeichnet wird. Der Begriff „Elsterbrücke“ (que qiao 鵲橋) stammt aus der chinesischen Volkssage vom Kuhhirten und der Weberin, über die Sie bei Interesse hier bei Wikipedia mehr lesen können.

Beide Übungsanweisungen haben auf energetischer Ebene die Funktion, Konzeptionsgefäß und Lenkergefäß miteinander zu verbinden und den Kleinen Himmlischen Kreislauf zu ermöglichen.

Angesichts der o. g. Ausführungen könnte es zusätzlich sein, dass damit auch Steißbeingeflecht und Halsgeflecht stimuliert werden. Eine weitere Optimierung, um das periphere Nervensystem anzusprechen.

Schließlich kann man die drei Pforten noch mit dem „Bogenspann-Prinzip“ in Verbindung bringen, zu dem Sie in diesem Abschnitt mehr erfahren. Die drei Pforten sorgen in diesem Bild für die notwendige Spannung der Bogensehne. Also nicht zu schlaff, aber auch nicht zu fest.

  1. Einige Erläuterungen zum Neijing Tu finden Sie im englischsprachigen Artikel auf Wikipedia. ↩︎
  2. Häufig wird hier auch auf den Dammpunkt Huiyin (會陰, CV1) verwiesen, dem ersten Punkt des Konzeptionsgefäßes (任脈 ren mai, im Englischen „conception vessel“). ↩︎