Myofasziale und energetische Leitbahnen

In diesem Abschnitt geht es um myofasziale und energetische Leitbahnen und damit um die Verknüpfung zweier unterschiedlicher Konzepte in Ost und West. Tai Chi und Qigong wurzeln stark in der traditionellen chinesischen Energielehre, der man im Westen manchmal eher skeptisch gegenübersteht. Ein etwas weiterer Blick auf die Dinge zeigt, dass die Konzepte gar nicht so weit auseinander zu liegen scheinen.

Das energetische Konzept der traditionellen chinesischen Medizin

Die traditionelle chinesische Medizin (TCM) basiert auf dem Konzept, dass verschiedene Leitbahnen den Körper durchziehen und diesen mit Energie versorgen. In der Regel unterscheidet man zwölf Hauptleitbahnen , die in engem Zusammenhang mit den Körperorganen stehen. Zusätzlich gibt es noch diverse Verbindungsleitbahnen und auch die so genannten „Acht außerordentlichen Gefäße“ (qi jing ba mai 奇經八脈), die im Tai Chi und Qigong ebenso eine wichtige Rolle spielen. Hier ein Überblick über die wichtigsten Energieleitbahnen:

Die wichtigsten Energieleitbahnen der traditionellen chinesischen Medizin

Wenn man sich diese Energieleitbahnen wie Wassergräben vorstellt, die ein Feld mit Wasser versorgen, wird das Grundprinzip schnell klar. Sind die Gräben durchgängig, können sie das Wasser in alle Bereiche des Feldes transportieren. Sind die Gräben aber an einigen Stellen verstopft, staut sich Wasser in den einen Bereichen und kommt zu wenig Wasser in den anderen Bereichen an. Bei den Energieleitbahnen ist es ähnlich. Sind die Leitbahnen blockiert, treten nach einer Weile Beschwerden oder langfristig sogar Krankheiten auf. Durchgängige Leitbahnen hingegen versorgen den gesamten Körper ausreichend mit Energie und das Energiesystem ist ausgeglichen.

Die Bewegungen beim Tai Chi und Qigong sind bewusst so konzipiert, dass die Energieleitbahnen geöffnet und eventuelle Blockaden aufgelöst werden. Der Energiefluss wird intensiviert, was sich positiv auf verschiedene gesundheitliche Aspekte auswirkt. Die Bewegungen wirken zum einen auf gesamte Leitbahnen, die beispielsweise durch feine Gegenbewegungen sanft gedehnt und damit geöffnet werden. Zum anderen wirkt man aber auch gezielt auf einzelne Punkte, die entlang der Leitbahnen liegen. Ein Beispiel dafür sind die so genannten Quellpunkte (yuan xue 原穴), die an Händen und Füßen liegen. Drehungen in den Hand- und Fußgelenken bzw. auch bestimmte Handhaltungen stimulieren diese Punkte und fördern den Energiefluss. Daher fühlt sich eine Übungsstunde mit Tai Chi oder Qigong nachher ganz anders an als beispielsweise ein Training auf dem Laufband, Schwimmtraining oder eine Radtour.

Myofasziale Leitbahnen und „Iron Wires“

Wer sich mit dem energetischen Konzept nicht so richtig anfreunden kann, für den ist vermutlich das Konzept der myofaszialen Leitbahnen greifbarer. Gemeint sind damit die Faszien und myofaszialen Verbindungen. Thomas W. Meyers beschreibt in seinem Buch „Anatomy Trains – Myofasziale Leitbahnen“ sieben wesentliche Leitbahnen: Oberflächliche Rücken- und Frontallinie, Laterallinie, Spirallinie, Armlinien, die funktionellen Linien und die tiefe Frontallinie.

Auch wenn es durchaus Unterschiede gibt, die Verläufe der myofaszialen Leitbahnen und die der TCM-Energiebahnen sind oft sehr ähnlich. Als Beispiel soll die oberflächliche Rückenlinie dienen, die sich vom Scheitel bis zur Sohle über die gesamte Körperrückseite erstreckt:

Die oberflächliche Rückenlinie erstreckt sich vom Scheitel bis zur Sohle.

Vergleicht man diese Rückenlinie mit der Blasen-Energieleitbahn der TCM (hellblaue Linien auf der Körperrückseite im ersten Bild weiter oben), sind die Ähnlichkeiten deutlich zu erkennen. Die Ärztin und Wissenschaftlerin Helene Langevin1 zeigt, dass die TCM-Energiebahnen intermuskulären bzw. intramuskulären Faszienschichten folgen und sie hat eine 80-prozentige Übereinstimmung zwischen Akupunkturpunkten und faszialen Trennschichten gefunden2.

Dr. John Fung3 beschreibt so genannte „Iron Wires“, die auf verschiedene Weise den Körper überziehen und ebenfalls die Ähnlichkeiten zwischen Faszien und TCM-Energiebahnen erkennen lassen.

Wir sehen also, dass zwei auf den ersten Blick sehr unterschiedliche Konzepte große Ähnlichkeiten aufweisen. Welches Konzept einem auch mehr zusagt – wichtig ist festzuhalten, dass Tai Chi und Qigong sehr intensiv auf diese Systeme wirken und damit eine ganz besondere Qualität der Bewegung erreichen.

Alternativen zum Energie-Begriff

Im Tai Chi und Qigong spricht man oft von der „Energie“ bzw. dem Qi. Diese Begrifflichkeit ist für manche schwierig zu nehmen. In diesem Fall bieten sich zwei alternative Begriffe an, die etwas neutraler und damit unter Umständen zugänglicher sind. John Bracy4 verwendet beispielsweise den Begriff „Signal“, Dr. John Fung5 den Begriff „Information“ bzw. „Informationsträger“. Wenn Sie also Schwierigkeiten damit haben, sich beispielsweise bei einer Qigong-Bewegung vorzustellen, wie die Energie von A nach B fließt, arbeiten Sie einfach mit den o. g. alternativen Begriffen.

  1. Siehe hier den englischsprachigen Wikipedia-Eintrag mit Angaben zu ihren Forschungen. ↩︎
  2. Siehe Thomas W. Meyers, „Anatomy Trains – Myofasziale Leitbahnen“, 4. Auflage S. 392. ↩︎
  3. Siehe Dr. John Fung, „Recalibrate the Mind, Reconnect the Body“, 1. Auflage 2022 S. 92-103. ↩︎
  4. Siehe John Bracy, „The Search for Mind-Body Energy“, London 2020. ↩︎
  5. Siehe Dr. John Fung, „Yi – How Your Mind can Supercharge Your Training“, 2021. ↩︎