Wenn man den Ablauf der Tai Chi-Form gelernt hat und sich darin sicher fühlt, wird traditionell empfohlen, sich auch den Waffenformen zu widmen. Die häufigsten Tai Chi-Waffen sind Schwert (jian 劍), Säbel (dao 刀) und Langstock (gun 棍) bzw. Speer. Meistens beginnt man mit dem Erlernen der Schwertform.
Warum Waffenformen lernen?
In der heutigen modernen Zeit stellt sich zunächst die Frage, warum man Bewegungsabläufe mit diesen alten Waffen lernen sollte.
Grundsätzlich macht es zunächst einmal Spaß, sich mit einem solchen Bewegungsablauf zu beschäftigen. Die Bewegungen nehmen mehr Raum ein, man muss sich neu koordinieren und orientieren, das Körpergleichgewicht muss sich mit dem Gegenstand in der Hand neu einstellen – dies alles ist eine hervorragende Körperschulung. In den Waffenformen tauchen zudem Schrittkombinationen auf, die in der normalen Tai Chi-Form nicht vorkommen. Für eine agilere Beinarbeit sind die Waffenformen also auch hilfreich. Weitere Vorteile wie bessere Arm-Rumpf-Koordination, Beweglichkeit der Gelenke in Armen und Händen usw. sind ebenso schnell nachvollziehbar.
Stärkere Fokussierung
Bei den Bewegungen der Tai Chi-Form ohne Waffe spielt die Fokussierung auch schon eine wesentliche Rolle. Im Laufe der Zeit wird die Vorstellung, wie die Bewegung auszuführen ist, immer klarer und präziser. Diese Absicht bzw. Vorstellungskraft bezeichnet man im Tai Chi als Yi (意).
Wenn Sie mit Ihrem Zeigefinger mehrmals hintereinander die Figur „8“ senkrecht vor Ihrem Körper in die Luft malen, benötigen Sie dafür ein gewisses Maß an Vorstellungskraft. Wenn Sie die Übung mit einem 30 cm langen Lineal in der Hand wiederholen und Ihren Fokus auf das von Ihnen abgewandte Linealende richten, ist bereits ein höheres Maß an Vorstellungskraft notwendig. Diesen Effekt macht man sich bei der Praxis mit Waffen zunutze1.
Da man bei den Waffenformen einen Gegenstand wie z. B. ein Schwert in der Hand hält, muss sich die Stärke der Vorstellungskraft automatisch anpassen: Um die Bewegung sauber und präzise auszuführen, muss die Vorstellungskraft in den Gegenstand wandern, d. h. man geht deutlich über die Körpergrenze hinaus in den Raum. Dies stärkt das Yi erheblich.
Über längere Zeit geübt, ist dieses Gefühl so stark im Körper verankert, dass man die gleiche Intention auch ohne den Gegenstand in der Hand erreicht. Der Lerneffekt durch die Waffenformen überträgt sich dann auch auf die Praxis der Tai Chi-Form ohne Waffen.
Das Schwert als Hilfsmittel für die Selbstkultivierung
Alle bisher genannten Vorteile des Übens der Waffenformen sind noch nicht vollständig. Es fehlt noch ein wichtiger Grund, der in der Praxis leicht unter den Tisch fällt: Die Waffe dient als äußerst effektives Hilfsmittel für die Selbstkultivierung.
Folgende Zitate geben einen Hinweis, worauf es beim Waffentraining ankommt, hier am Beispiel des Schwertes:
„Die Energie des Schwertes ist wie der Regenbogen. Die Bewegungen des Schwertes sind einem Drachen ähnlich. Schwert und Geist sind zu einer Einheit verschmolzen, geheimnisvoll und grenzenlos.“
Yang Chengfu (3. Generation Yang-Stil, 1883-1936)
„Nach einer langen Zeit des Übens wird Dein Körper mit dem Schwert verschmelzen und Dein Schwert wird mit Deinem Geist verschmelzen.„
Li Jinglin (General und bekannter Schwertmeister, 1885-1931)
Die Kernaussage bezieht sich auf das Verschmelzen von Schwert und Geist. Es bedarf meist eines langjährigen Trainings, um mit diesen Dingen beim Üben etwas anfangen zu können. Aber es wäre schade, wenn man auch nach vielen Jahren des Übens auf die rein körperliche Ebene beschränkt bliebe und das volle Potential nicht ausschöpfen würde. Die Schwertform und die anderen Waffenformen sind dafür exzellente Hilfsmittel.
Es gibt die unterschiedlichsten Motivationen für das Üben der Waffenformen. Haben Sie also keine Scheu davor, sich nach einer gut erarbeiteten Basis auch an die Waffenformen zu wagen, insbesondere die Schwertform2.
- Dies ist eine grobe Beschreibung, in Wirklichkeit ist es wesentlich feiner ausgearbeitet. Aber Sie bekommen ein ungefähres Gefühl, was gemeint ist. ↩︎
- Einige Informationen zum chinesischen Schwert finden Sie im englischen Wikipedia-Artikel. Dieser ist etwas detaillierter als die deutsche Version. ↩︎