Im Abschnitt zu den sechs Harmonien tauchten bei den drei inneren Harmonien bereits die Aspekte Shen, Yi und Qi auf. Hier soll etwas genauer darauf eingegangen werden. Das Shen-Yi-Qi-Konzept ist essentiell zum tieferen Verständnis von Tai Chi und Qigong.
Der Qi-Aspekt
Das chinesische Wort Qi (氣, in vereinfachter Schreibweise 气) bedeutet Lebensenergie, Lebenskraft, Atem oder auch Luft. Der Begriff wird im Chinesischen in den unterschiedlichsten Zusammenhängen verwendet, dies macht ihn für uns im Westen schwierig greifbar. In der chinesischen Medizin geht man davon aus, dass Qi auf Energiebahnen durch den Körper fließt und diesen versorgt. Das Wetter heißt wörtlich „Himmels-Qi“ (tianqi 天气) und in der Wirtschaft bezeichnet man eine Konjunktur als jingqi (景气), eine Aussicht auf (positives) Qi.
Qi ist weder sicht- noch greifbar. In Bezug auf Tai Chi und Qigong ist die Vorstellung hilfreich, dass Qi eine Art energetischer Informationsträger ist, der bei uns selbst als auch bei anderen Körper und Psyche beeinflusst.
Eine regelmäßige Praxis von Tai Chi oder Qigong stärkt das Qi. Eine hilfreiche Grundlagenübung dafür ist beispielsweise das zhan zhuang (站桩), das „Stehen wie ein Pfahl“, auch stilles Qigong genannt.
Der Yi-Aspekt
Mit Yi (意) ist die Intention gemeint. Das Schriftzeichen setzt sich aus 音 (yin, Ton, Klang) im oberen Teil und 心 (xin, Herz) im unteren Teil zusammen. Yi könnte also auch mit „Klang des Herzens“ („sound of the heart“, wie John Fung es nennt) übersetzt werden – hierdurch wird die Verbindung zum Herzen deutlich.
In der chinesischen Vorstellung entstehen unsere Emotionen aus dem Herzen heraus. Auch im Deutschen finden sich viele Beispiele für diese Verbindung: Herzensfreude, Herzenswunsch, Herzenslust, Herzschmerz, Warm- bzw. Kaltherzigkeit usw.
Sind die Emotionen dominierend, entsteht tendenziell ein Durcheinander und man agiert sprunghaft und ruhelos. Es fehlt eine klare Ausrichtung.
Die Intention Yi bringt nun diese klare Ausrichtung hinein, aus der Zerstreutheit entsteht Klarheit und Zielgerichtetheit. Eine Grundlagenübung zur Stärkung des Yi ist beispielsweise das von Chu King-Hung unterrichtete Yigong (意功). Auch die fortgeschritteneren Tai Chi-Prinzipien arbeiten verstärkt mit dem Yi. Bei Qigong-Übungen wird die Intention z. B. eingesetzt, um das Qi auf bestimmten Wegen durch den Körper zu führen.
Beim Yi wird zwischen bewusstem Yi und wahrem Yi unterschieden. Das bewusste Yi (意識 yishi, Bewusstsein, Bewusstheit) setzen wir beispielsweise ein, wenn wir einen Text auswendig lernen oder eine neue Bewegung einüben. Die Geschwindigkeit ist eher langsam, aber zum Lernen und Verstehen ist dies hilfreich.
Das wahre Yi (真意 zhenyi) ist frei von Gedanken und steht in engem Zusammenhang mit dem Shen-Aspekt. Ein resolutes und zielgerichtetes Handeln in einer Gefahrensituation ist beispielsweise ein Ausdruck des wahren Yi. Stellen Sie sich vor, Sie stehen an einer Fußgängerampel und ein kleines Kind neben Ihnen möchte plötzlich bei Rot auf die Straße laufen. Ohne großes Nachdenken greifen Sie das Kind und halten es zurück, bevor es in ein vorbeifahrendes Auto rennt. Diese schnelle und zielgerichtete Intention ist das wahre Yi, das mit der Übungspraxis kultiviert wird.
Der Shen-Aspekt
Das chinesische Wort Shen (神) wird im Englischen meistens mit „spirit“ übersetzt, im Deutschen entsprechend mit „Geist“. Eine etwas greifbarere Übersetzung ist „Wahres Selbst“ (True Self). Das Wahre Selbst ist von dem Bild zu unterscheiden, das wir von uns selbst basierend auf Gewohnheiten, Konditionierungen, Wünschen oder Begierden haben. Das Wahre Selbst ist frei von diesen Dingen, frei von Gedanken und frei von Raum und Zeit. Es tritt hervor, sobald das Ego in den Hintergrund getreten ist.
Eine traditionelle Methode zur Kultivierung des Shen-Aspekts ist die Meditation, beispielsweise das „Sitzen in Vergessenheit“ (zuowang 座忘), bei dem man „einfach“ nur in Stille sitzt (oder steht).
Ein Beispiel für das Wirken des Shen-Aspekts ist ein Pianist, der ein Klavierstück in bestimmter Weise spielt. Er hat das Stück so intensiv eingeübt, dass er nicht mehr über die einzelnen Abschnitte nachdenken muss. Er lässt sich auch weder vom Publikum noch von seinem Ego beeinflussen. Vielmehr geht er beim Spielen in der Musik auf und es entsteht der Eindruck, dass das Stück ihn spielt und nicht umgekehrt.
Zusammenspiel von Shen, Yi und Qi
Der Fluss der Qi-Energie wird durch die Intention Yi bestimmt, daher auch die alten Tai Chi- und Qigong-Regeln „Mit dem Yi das Qi führen“ (以意引氣 yi yi yin qi) und „Das Yi führt das Qi, das Qi schafft die Form“ (意領氣氣催形 yi ling qi, qi cui xing) . Das Yi steht also auf einer höheren Stufe als das Qi und die Bewegungen bekommen eine gute Qualität, wenn das Zusammenspiel von Yi und Qi korrekt umgesetzt wird.
Es wäre aber schade, wenn man nun auf der Yi-Ebene stehen bleiben und diese dadurch dominierend würde. Der Tai Chi-Meister Wu Yuxiang (武禹襄, 1812-1880) erklärt in seinen „Erklärungen zum Taijiquan“ (太極拳解 taijiquanjie), wie die einzelnen Aspekte korrekt in Verbindung gebracht werden sollen:
心為令、氣為旗、神為主師、身為驅使。
Das Herz ist der Kommandeur, das Qi ist der Fahnenträger, das Shen ist der General und der Körper ist der Vorstoß.
Ein General im alten China führte eine Schlacht üblicherweise nicht von vorne, sondern hielt sich an einem sicheren Ort etwas hinter der Front auf. Von dort hatte er den Gesamtüberblick, verfügte über alle wichtigen Informationen und konnte die notwendigen Entscheidungen treffen. Er stand nicht in direktem Austausch mit den einzelnen Soldaten, sondern setzte Kommandeure ein, die für verschiedene Truppenteile verantwortlich waren.
Die Befehle wurden dann über die Kommandeure an die einzelnen Truppenteile weitergegeben. Sollte ein Trupp einen bestimmten Vorstoß vornehmen, wurde zur Orientierung auf dem Schlachtfeld ein Fahnenträger eingesetzt. Diesem hatte man eine Stange mit einer Fahne auf den Rücken gebunden, so dass alle Soldaten auch im Getümmel sehen konnten, wohin sie sich wenden mussten.
Der Shen-Aspekt ist in der oben zitierten Metapher der General mit dem Gesamtüberblick. Die Kommandeure mit ihren Befehlen sind das Herz, von dem die Intention Yi der äußere Ausdruck ist. Die Marschrichtung wird dann vom Qi als Fahnenträger angezeigt. Der Körper, symbolisiert durch die Fußsoldaten, kann die Bewegung schließlich ausführen. Es geht also um eine klar definierte hierarchische Struktur: Shen => Yi => Qi => Äußere Bewegung
Dies ist als Lernprozess zu verstehen und alle Aspekte spielen jederzeit mit hinein. Und es ist völlig normal, dass sich die Schwerpunkte im Laufe der Zeit verändern und man sich quasi vom Ende her nach vorne entwickelt. Wichtig ist nur, dass man nicht auf der Qi– oder Yi-Ebene stehen bleibt, sondern dass am Ende der Shen-Aspekt an erster Stelle steht.
Im älteren Yang-Stil nach Wang Yongquan gibt es eine spezielle Übungssequenz, mit deren Hilfe man die einzelnen Aspekte versteht und ein Gefühl für das Zusammenspiel bekommt.