Die sechs Harmonien

Die sechs Harmonien (六合 liu he) sind ein übergeordnetes Konzept aller inneren Kampfkünste und damit auch sehr hilfreich für das Grundverständnis der Tai Chi-Praxis.

Die sechs Harmonien teilen sich auf in drei äußere und drei innere Harmonien:

Die drei äußeren Harmonien

Die drei äußeren Harmonien (外三合 wai san he) sind einfach zu verstehen, es geht um das Zusammenspiel verschiedener Körperteile:

  • Die Harmonie von Händen und Füßen (手与足合 shou yu zu he)
  • Die Harmonie von Ellbogen und Knien (肘与膝合 zhou yu xi he)
  • Die Harmonie von Schulter und Hüfte (肩与胯合 jian yu kua he)

Die Bewegungen sind so konzipiert, dass die genannten Körperteile korrekt miteinander verbunden werden und so eine ganzheitliche und zentrierte Bewegung ermöglichen. Auf der körperlichen Ebene bilden sie das biomechanische Grundgerüst, auf der energetischen Ebene sorgen sie für einen freien Energiefluss auf den Meridianen.

Da der Rumpf der zentralen Körperachse am nächsten ist und damit den stärksten Einfluss auf die Stabilität hat, beginnt man in der Regel mit der Verbindung von Schulter und Hüfte. Im nächsten Schritt geht man weiter nach außen und verbindet Ellbogen und Knie und im letzten Schritt geht es in der Peripherie um die Verbindung von Händen und Füßen.

Die äußeren Harmonien im Laufe der Zeit in die Bewegungen zu integrieren ist außerordentlich förderlich für das Körpergefühl und man bewegt sich im Alltag achtsamer und effektiver.

Die drei inneren Harmonien

Die drei inneren Harmonien (内三合 nei san he) bilden das Gegenstück zu den äußeren Harmonien. Der Eindruck mag täuschen, aber diese Harmonien scheinen eher selten thematisiert zu werden. Es ist nun einmal wesentlich einfacher sich auf die körperlichen Aspekte zu konzentrieren, da diese greifbarer und nachvollziehbarer sind. Aber das wesentliche Potential der Tai Chi-Praxis entsteht durch die korrekte Anwendung der drei inneren Harmonien:

  • Die Harmonie von Geist1 und Absicht (神与意合 shen yu yi he)
  • Die Harmonie von Absicht und Energie (意与氣合 yi yu qi he)
  • Die Harmonie von Energie und Kraft (氣与勁2qi yu jin he)

Diese Harmonien sind auf Anhieb nicht so leicht zu verstehen. Sie entziehen sich der rein körperlichen Erfahrbarkeit und sind sehr subtil. Als Tai Chi-Einsteiger wird man sich aber ohnehin erst einmal vorwiegend mit den äußeren Harmonien beschäftigen.

Hat man nach längerer Zeit der Praxis das Gefühl, dass einem die Bewegungen an sich zwar klar sind, dass alles aber noch wenig fokussiert wirkt, ist vermutlich der Aspekt der Absicht (yi) zu wenig ausgeprägt. Dann sollte man sich diesem Aspekt verstärkt widmen.

Bei Fortgeschrittenen kann es vorkommen, dass man trotz kontinuierlichem Trainings und klarer Vorstellung der Aspekte Qi und Yi ein Gefühl der Unvollständigkeit hat. Die Praxis tut zwar gut und man fühlt sich hinterher besser. Man kann auch die inneren Prinzipien entsprechend umsetzen, und trotzdem sagt einem ein Gefühl tief im Innern, dass es noch nicht vollständig ist. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass der Shen-Aspekt gestärkt werden sollte.

Der Yang-Stil beinhaltet verschiedene Übungen und Methoden, um im Laufe der Zeit alle sechs Harmonien zu integrieren. Die Tai Chi-Praxis fühlt sich dann auf allen Ebenen zutiefst wohltuend und natürlich an. Dieses Gefühl wirkt dann auch positiv in den Alltag hinein.

  1. Manchmal wird statt „Geist“ auch „Herz“ (心 xin) verwendet. Beide stehen in einem engen Zusammenhang. Mit Herz ist nicht das Körperorgan gemeint, sondern das spirituelle Zentrum. ↩︎
  2. Anstelle des Zeichens 勁 (jin) taucht manchmal auch das Zeichen 力 (li) auf. Li steht in diesem Fall nicht wie sonst oft im Tai Chi-Kontext für „rohe/äußere Kraft“, sondern neutral für „Kraft“ im übergeordneten Sinn. Jin als feinere innere Kraft hat einen stärkeren Bezug zum Tai Chi. ↩︎