Die Tai Chi-Form

Die Tai Chi-Form ist mit einem Lehrbuch zum Erlernen einer Fremdsprache vergleichbar. Wenn wir uns daran erinnern, wie wir in der Schulzeit zum Beispiel Englisch gelernt haben, so erfolgte dies in der Regel mit einem Lehrbuch. In aufeinander aufbauenden Lektionen haben wir gelernt, wie der Satzbau funktioniert, wie man die verschiedenen Zeitformen bildet oder wie man zählt und die Uhrzeit angibt.

Auf der körperlichen Ebene erfüllt die Tai Chi-Form die gleiche Funktion: Nach und nach lernt man die einzelnen Bewegungen und reiht sie aneinander, bis ein Bewegungsablauf entsteht. Dabei lernt man die korrekte Körperhaltung und wie die Gelenke miteinander verbunden werden, so dass sich der Körper ganzheitlich bewegt. Von Kopf bis Fuß ist alles miteinander verbunden. Diese Körperarbeit ist komplex, daher das eher langsame Bewegungstempo beim Tai Chi. Man benötigt ausreichend Zeit, um in die Bewegung hineinzuspüren und die Prinzipien umzusetzen.

Kann man sich in der neuen Fremdsprache fließend unterhalten, sobald man das Lehrbuch durchgearbeitet hat? Die meisten von uns nicht. Es braucht Zeit und Übung, bis einem die Grundzüge so vertraut sind, dass man beim Sprechen nicht mehr über die Satzbildung nachdenken muss. Genauso ist es bei der Tai Chi-Form: Geduld und regelmäßige Praxis sind erforderlich, damit aus den zunächst ungewohnten und ungelenken Bewegungen ein natürlicher und fließender Bewegungsablauf wird. Die positive Wirkung der Tai Chi-Bewegungen zeigt sich jedoch von Anfang an und hinterlässt ein angenehmes Gefühl nach dem Üben.

Vielfalt von Tai Chi-Formen

In den verschiedenen Tai Chi-Stilen gibt es je nach Traditionslinie die unterschiedlichsten Tai Chi-Formen. Von Langform bis Kurzform ist alles im Angebot. Selbst innerhalb des gleichen Stils gibt es verschiedene Ausführungsversionen der gleichen Form.

Vom vielfältigen Angebot sollte man sich nicht verwirren lassen, denn die äußere Bewegungsform ist nur ein Bruchteil dessen, worum es im Tai Chi wirklich geht. Von einem alten Tai Chi-Meister ist das Zitat überliefert: „Im Tai Chi sind nur zehn Prozent äußerlich sichtbar. Die restlichen neunzig Prozent spielen sich im Innern ab“. Daher kann man ganz gelassen bleiben, wenn zum Beispiel manche in den sozialen Medien mit DER einzig wahren überlieferten Form werben. Dies offenbart nur das zu körperbetonte Verständnis von Tai Chi. Um nicht missverstanden zu werden: Die äußere Tai Chi-Form ist keinesfalls unwichtig oder gar beliebig, es kommt sehr wohl auf viele Details an. Aber die äußere Form macht eben nur die oben zitierten zehn Prozent aus.

Der Nutzen der Leere oder Yin als Grundlage von Yang

Sie werden sich jetzt vielleicht fragen, was denn dann die neunzig Prozent sind, wenn der äußere Bewegungsablauf offenbar nur die Grundlage darstellt?

Zunächst einmal geht es darum, dem äußeren Ablauf eine innere Struktur zu verleihen. Verschiedene Körperteile werden in Beziehung zueinander gesetzt und man integriert Feinbewegungen, die von außen nicht mehr erkennbar sind. Der Bewegungsablauf sieht dann zwar von außen immer noch gleich aus, die Wirkung ist aber eine andere. Bei diesen Mikrobewegungen spielen Spiralen und Kreise eine wichtige Rolle, der Körperbezug ist dabei immer noch deutlich ausgeprägt. Darüber hinaus gibt es aber auch Aspekte, die körperlich nicht mehr so greifbar sind. Für ein besseres Verständnis soll folgender Vergleich dienen:

Wenn Sie sich mit einem Tonkrug Wasser einschenken möchten, sollte die äußere Form des Kruges ausreichend solide sein. Es sollten zum Beispiel keine Risse vorhanden sein, aus denen das Wasser austreten könnte. Auch der Henkel sollte gut befestigt sein, damit er beim Ausgießen nicht abbricht. Aber was macht den Hauptnutzen des Wasserkruges aus? Es ist die innere Leere. Nur dank der Leere im Krug können wir ihn zum Befüllen und Ausgießen nutzen1. Ist es wichtig, in welcher Farbe die Außenseite des Kruges bemalt ist? Nein, dies ist nur eine Frage des persönlichen Geschmacks und hat keinen Einfluss auf die Funktion. Aber wenn das Innere des Kruges nicht leer ist, wird es schwierig ihn zu nutzen.

Das Äußere des Kruges ist der äußere Bewegungsablauf der Tai Chi-Form. Nutzen und Wirkung der Tai Chi-Form entstehen hauptsächlich durch das, was von außen nicht sichtbar und greifbar ist. Konkret geht es um die Aspekte Geist (shen), Absicht (yi) und Energie (qi). Eine andere Beschreibung ist, dass das Yang (= das Äußere) immer ein Yin (= das Innere) als Grundlage benötigt und diesem folgt. So verbinden sich Innen und Außen zur Einheit.
Etwas mehr zu diesem Zusammenspiel von Innen und Außen erfahren Sie im Abschnitt zu den sechs Harmonien.

Himmel, Erde und Mensch

Die Langform des Yang-Stils wird in drei Teile unterteilt: Der erste Teil steht symbolisch für die Erde, der zweite Teil für den Himmel und der dritte Teil für den Menschen. Diese Dreiheit entstammt der daoistischen Metaphysik und wird auch als „kosmische Trinität“ bezeichnet. Auf der technischen Ebene kommt dies in der Weise zum Ausdruck, dass es im Teil 1 zunächst um Stabilität und Verwurzelung geht. Im zweiten Teil kommen komplexere Bewegungen hinzu, bei denen man sich nach außen und oben öffnet, es wird teilweise „luftiger“. Teil 3 ist eine Synthese der beiden vorigen Teile, so wie auch der Mensch zwischen Himmel und Erde steht.

Bildhafte Bewegungen

Es heißt, dass sich Chinesen gerne bildhaft ausdrücken. Für viele Bewegungen der Tai Chi-Form trifft dies zu. Bei den Namen der Schwertform-Bewegungen ist dies sogar noch stärker ausgeprägt. Die Namen sind nicht willkürlich gewählt, sondern sie passen exakt zum Charakter bzw. zum Kernaspekt der jeweiligen Bewegung. Dies bewusst wahrzunehmen und zu integrieren ist ein weiteres Beispiel für die Verbindung von Innen und Außen (内外相合 nei wai xiang he).

Das Wildpferd als Bild für die Tai Chi-Bewegung „Das Wildpferd teilt seine Mähne“.

Die Tai Chi-Form als Reise durch das Leben

Eine interessante Interpretation der Langform des Yang-Stils beschreibt die Engländerin Gerda Geddes in ihrem Buch „Looking for The Golden Needle“2. Geddes (1917-2006) war eine Tai Chi-Pionierin in England und hat bis ins hohe Alter praktiziert und unterrichtet. Sie war neugierig, was sich wohl hinter den Namen der Bewegungen verbirgt und hatte sich intensiv mit der chinesischen Mythologie und der daoistischen Philosophie beschäftigt. Sie hatte sich gefragt:

„Why were these specific names and symbols chosen from hundreds of others, and why do they appear in this specific order?“3

Sie hatte also die Vermutung, dass die Auswahl der Namen und vor allem auch ihre Reihenfolge im Formablauf unter Umständen ganz gezielt erfolgt war. Sie fing an zu recherchieren und stellte nach einiger Zeit fest:

„It was through the specific order in which the images appear in the sequences of the T’ai-chi Ch’üan that a hidden allegorical journey came to light.“4

Sie betont, dass ihre Idee rein subjektiv und im Nachhinein nicht nachweisbar sei. Trotzdem ist es ein interessanter Gedanke, dass ein Durchlauf der Tai Chi-Form wie eine Reise durch das Leben selbst ist. Am Anfang der Form entspringt die erste Bewegung der Leere und kehrt am Ende wieder zum Ursprung zurück. Zwischendurch durchläuft man verschiedene Lebens- und Entwicklungsphasen, die in der Tai Chi-Form durch die verschiedenen Sequenzen in der entsprechenden Reihenfolge symbolisiert werden.

  1. Dieser Vergleich kommt Ihnen unter Umständen bekannt vor. Er stammt aus dem Daodejing, Kapitel 11. Einen Einblick in das Daodejing erhalten Sie hier bei Wikipedia. ↩︎
  2. Gerda Geddes, „Looking for The Golden Needle. An allegorical journey“, MannaMedia, Plymouth 1991. ↩︎
  3. Ebenda, Seite 48 der 3. Auflage 2001. ↩︎
  4. Ebenda, Seite 49 der 3. Auflage 2001. ↩︎