Das Thema Öffnen (開 kāi, in vereinfachter Schreibweise 开) und Schließen (合 hé) ist ein wichtiges Grundprinzip im Tai Chi und soll in diesem Abschnitt aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden.
Öffnen und Schließen bei Yang Chengfu
Bei den „Zehn Grundregeln des Taijiquan“ von Yang Chengfu tauchen beide Begriffe im achten Punkt unter dem Titel „Verbindung von Innen und Außen“ (內外相合 nèiwài xiānghé) auf. Der Text lautet:
太极拳所练在神。故云“神为主帅,身为驱使”。精神能提得起,自然举动轻灵。架子不外虚实开合。所谓开者,不但手足开,心意与之俱开;所谓合者,不但手足合,心意亦与之俱合。能内外合为一气,则浑然无间矣。
Beim Üben des Tai Chi liegt der Schwerpunkt auf dem Geist (Shen). Daher heißt es: „Der Geist ist der Befehlshaber, der Körper folgt den Anweisungen.“
Wenn der Geist wach und aufgerichtet ist, werden die Bewegungen auf natürliche Weise leicht und lebendig. Die Tai Chi-Form besteht im Wesentlichen aus Leere und Fülle, Öffnen und Schließen.
„Öffnen“ bedeutet nicht nur, dass Hände und Füße öffnen, sondern auch, dass Herz und Intention sich gleichzeitig mit ihnen öffnen. „Schließen“ bedeutet nicht nur, dass Hände und Füße schließen, sondern auch, dass Herz und Intention sich gleichzeitig mit ihnen schließen. Wenn man Inneres und Äußeres zu einer Einheit verschmelzen kann, entsteht eine vollkommen harmonische Verbindung ohne Trennung.
Hier ist zunächst der erste Satz wichtig, dass es bei der Tai Chi-Praxis hauptsächlich um Shen geht. Dieser Leitsatz deckt sich mit dem Shen-Yi-Qi Konzept, auf das in der Traditionslinie von Wang Yongquan so großen Wert gelegt wird. Bei der eigentlichen Formpraxis kommen dann Leere und Fülle und Öffnen und Schließen ins Spiel, wobei beide Paare als Aspekte des grundlegenden Yin Yang-Prinzips angesehen werden können.
Weiterhin ist der Hinweis wichtig, dass Öffnen und Schließen nicht nur auf körperlicher Ebene stattfinden („Hände und Füße“), sondern dass dies von innen heraus an Herz und Yi gekoppelt ist. Innen und Außen werden also miteinander verbunden.
Wie genau Öffnen und Schließen während der Formpraxis umgesetzt werden sollen, wird von Yang Chengfu leider nicht weiter konkretisiert. Dazu sind die zehn Grundregeln zu allgemein gehalten.
Öffnen und Schließen bei Wang Yongquan
Die Ausführungen von Wang Yongquan zum Thema Öffnen und Schließen gehen in die gleiche Richtung wie bei Yang Chengfu. Wang Yongquan unterscheidet ebenfalls zwischen dem Öffnen und Schließen bei der äußeren Bewegung und bezogen auf die innere Energie (内氣 nèiqì). Und gemäß seinen 7 Anforderungen an die Tai Chi-Praxis muss die Verbindung zwischen Innen und Außen in der Weise erfolgen, dass die innere Energie die äußere Bewegung führt.
Bezogen auf die äußere Bewegung wird beim Öffnen und Schließen der gesamte Körper integriert. Bei Bewegungen mit Yin-Charakter dominiert das Öffnen, das Schließen ist jedoch mit impliziert. Bei Yang-Bewegungen ist es umgekehrt. Damit wechseln sich Öffnen und Schließen in zeitlicher Folge ab, räumlich betrachtet treten sie aber stets gleichzeitig auf. Dies erfüllt perfekt die Grundlogik des Yin Yang-Symbols: Yin und Yang wechseln sich ab, wobei Yin aber stets auch Yang enthält und umgekehrt:

Auch das Öffnen und Schließen der inneren Energie bezieht den gesamten Körper ein. Die Ausrichtung ist nicht linear, sondern dreidimensional. Mit der inneren Energie ist ein Öffnen und Schließen auch dann möglich, wenn die äußere Bewegung stillsteht. Wang Yongquan zitiert in seinen Ausführungen Yang Chengfu mit den Worten: Sowohl Öffnen als auch Schließen müssen sich unbedingt angenehm und behaglich anfühlen.
Das Öffnen und Schließen der inneren Energie hat Bezug zum Herzen (心 xīn), dies deckt sich also auch mit Yang Chengfus Ausführungen in den „Zehn Grundregeln“. Bei Wang Yongquan ist mit Herz nicht das Herz als Organ gemeint ist, sondern das spirituelle Zentrum.
Interessant ist, dass bei Wang Yongquan sogar die Augen mit einbezogen werden, dies wird als „Augen-Shen“ (眼神 yǎnshén) bezeichnet. Traditionell heißt es, dass sich Shen vor allem in den Augen zeigt. Auch beim Augen-Shen gilt die gleiche Regel wie zuvor: Öffnen und Schließen wechseln sich ab, Öffnen enthält Schließen und Schließen enthält Öffnen. Eine perfekte Umsetzung der Yin Yang-Regeln in die Praxis. Weiterhin sorgt das Öffnen und Schließen des Augen-Shen dafür, dass man während der Praxis den Shen-Aspekt automatisch integriert.
Öffnen und Schließen zur Bildung von Spiralbewegungen
Bei Chu King-Hung tauchen die Begriffe Öffnen und Schließen im Zusammenhang mit der so genannten Qi-Form (Chi-Form) bzw. Armspirale auf. Dies ist eine Vertiefungsstufe der Tai Chi-Form, um feine Spiralen in die Armbewegungen zu integrieren. Dies verbessert die Verbindung vom Rumpf bis zu den Händen und hilft dabei, dass sich der Körper als Ganzes bewegt.
Auf anatomischer Ebene entsteht diese Form des Öffnens und Schließens durch feine und aufeinander abgestimmte Bewegungen im Ellbogen- und Handgelenk.
Das Ellbogengelenk besteht aus drei Teilgelenken: Oberarm-Ellengelenk (Articulatio humeroulnaris), Oberarm-Speichen-Gelenk (Articulatio humeroradialis) und proximales (körpernahes) Ellen-Speichen-Gelenk (Articulatio radioulnaris proximalis). Mit Hilfe des Ellbogengelenks kann man den Unterarm beugen (Flexion), strecken (Extension), zum Körper heranführen (Adduktion) und vom Körper wegführen (Abduktion). Außerdem ist das Ellbogengelenk auch bei Drehbewegungen der Hand beteiligt, was man als Supination1 und Pronation2 bezeichnet. Das folgende Video veranschaulicht, worum es geht:
Die Qi-Form/Armspirale entsteht primär durch Adduktion und Abduktion des Ellbogengelenks. Dies erfolgt in Form von Mikrobewegungen, die von außen kaum sichtbar sind.
Supination und Pronation werden bei Chu King-Hung im Rahmen der Vertiefungsstufe „Drehrichtung der Armspirale“ umgesetzt, womit die Faszien im Arm bewegt und stimuliert werden. Gleichzeitig spielt die Kombination von Supination und Pronation beider Arme eine wichtige Rolle, um dem imaginären Armball auf körperlicher Ebene einen Impuls für die Rotationsrichtung zu geben3.
Die Feinmotorik der Hände ist besonders gut ausgeprägt, hierbei spielt das Handgelenk eine wichtige Rolle. Das folgende Video zeigt den Bewegungsspielraum des Handgelenks:
Die feinen Spiralbewegungen im Arm entstehen durch geschicktes Kombinieren der Bewegungen im Ellbogen- und Handgelenk. Die Faszien werden stimuliert und die Leitfähigkeit der Nerven optimiert. Somit kann die Jin-Kraft über die Arme bis in die Hände übertragen werden.
Die Integration der Spiralbewegungen in die Arme ist nicht ganz so einfach und man muss darauf achten, dass man nicht dauerhaft auf der biomechanischen Ebene verbleibt. Vielmehr muss man die Bewegungen mit dem YiQi führen, wie es Yang Chengfu angeraten hat.
Auch wenn Chu King-Hung bei der Qi-Form/Armspirale von „open“ und „close“ spricht, ist dies nicht mit dem Öffnen und Schließen im Sinne von Yang Chengfu und Wang Yongquan zu verwechseln. Es handelt sich um unterschiedliche Aspekte. Die Konnotation von Chu King-Hung leuchtet aber ein, wenn man sich die anatomischen Vorgänge genauer betrachtet.
Das Thema der Spiralbewegungen kommt auch bei Wang Yongquan vor und es gibt verschiedene Neigong-Prinzipien dazu. Allerdings läuft dies nicht unter der Bezeichnung „Öffnen und Schließen“ und die Umsetzung spielt sich auf einer subtileren Ebene ab.
- Supination: Elle (Ulna) und Speiche (Radius) liegen parallel nebeneinander. Wenn der Unterarm auf einem Tisch aufliegt, zeigt die Handfläche nach oben. ↩︎
- Pronation: Elle und Speiche überkreuzen sich. Wenn der Unterarm auf einem Tisch aufliegt, zeigt die Handfläche nach unten. ↩︎
- Wenn dies ausreichend eingeübt ist, reicht die Vorstellung des Armballs mit Hilfe des Yi aus und der Körper folgt automatisch. ↩︎
© Tai Chi Schule Gunnar Siebel 10/2025.