Tai Chi und Spiritualität

Die meisten Interessierten beginnen mit dem Tai Chi, um etwas für ihre körperliche Gesundheit zu tun oder als Ausgleich zum Alltagsstress. Doch Tai Chi ist von alters her auch ein Weg der Selbstkultivierung und Spiritualität. Wer in dieser Richtung interessiert ist, wird im Tai Chi einen wunderbaren Weg finden.

Der spirituelle Entwicklungsprozess im Tai Chi ist vergleichbar mit einer Blume, die in verschiedenen Phasen wächst und sich schließlich auf ganz natürliche Weise von selbst öffnet. Der Prozess verläuft behutsam und natürlich ab, nichts kann erzwungen werden.

Auf welche Art und Weise begünstigt die Tai Chi-Praxis aber nun eine spirituelle Entwicklung? Im Folgenden werden einige Aspekte vorgestellt.

Stille in der Bewegung

Beim Durchlaufen der Tai Chi-Form ist man vom Anfang bis zum Ende kontinuierlich in Bewegung. Es gibt keine Pausen oder Lücken, die Bewegungen fließen stetig dahin wie Wasser in einem Fluss. Dieser Bewegung im Außen, dem Yang, steht im Innern ein Yin gegenüber. Dies ist die innere Stille, quasi die Quelle der Bewegungen. Diese Stille ist der ruhende Pol, der durch den gesamten Bewegungsablauf getragen wird.

In der Praxis ist dies leichter gesagt als getan. Insbesondere am Anfang ist man noch viel zu sehr mit dem Ablauf beschäftigt. Man muss sich z. B. an die nächste Bewegung erinnern oder kommt an einer anspruchsvollen Stelle etwas aus dem Gleichgewicht. Es gibt unzählige Auslöser, welche die Stille unterbrechen und den rationalen Geist wieder in den Mittelpunkt ziehen.

Erst nach längerer Übungszeit, wenn der Ablauf nahezu wie von selbst gelingt, kann sich die innere Stille wirklich entfalten. Dabei ist es ähnlich wie in der Meditation hilfreich, wenn die innere Stille auch von äußerer Stille unterstützt wird. Sprich anfangs ist es ratsam, einen Platz oder eine Uhrzeit zum Üben etwas abseits vom Trubel zu suchen, um nicht abgelenkt zu werden.

Die innere Stille ist ein wesentlicher Aspekt spiritueller Entwicklung. So heißt es beispielsweise im Daodejing:

靜為躁君。
Die Stille ist der Unruhe Herr.
Laozi, Daodejing, Vers 26

Wer lieber ein Beispiel aus der christlichen Mystik bevorzugt, wird z. B. bei Meister Eckhart fündig:

Die tiefste Begegnung mit Gott findet in der Stille statt.
Meister Eckhart

Befindet man sich in stetiger Unruhe und hastet von einem zum anderen, verliert man den Bezug zu sich selbst. Bei Hektik und Unruhe tritt das wahre Selbst in den Hintergrund. Breitet sich innere Stille aus, tritt das wahre Selbst hervor.

Die Atmung als Hilfsmittel

Die Atmung ist in vielen traditionellen Systemen wie Yoga usw. ein wichtiges Hilfsmittel. Auch im Tai Chi gibt es diverse Möglichkeiten, Bewegung und Atmung miteinander zu verbinden. Dabei verlangen anfangs ungewohnte Atemmethoden wie die umgekehrte Atmung1 viel Geduld und Beharrlichkeit beim Üben. Der große Vorteil der Atemarbeit besteht darin, dass man automatisch im Hier und Jetzt verweilt. Schweifen die Gedanken ab, entsteht zwischen Bewegung und Atmung sofort eine Lücke. Diese Lücke nimmt man körperlich wahr und kann wieder in die Verbundenheit zurückkehren. Wenn man Bewegung und Atmung korrekt miteinander verbindet, gibt es keinen Raum mehr für sorgenvolle Gedanken oder diverse „ToDos“. Man ruht völlig in sich selbst, was ein tiefes Entspannungsgefühl bewirkt.

Nach längerer Übungszeit entsteht das Gefühl, dass man nicht mehr selbst derjenige ist, der aktiv atmet und dabei die Bewegung ausführt. Sondern es fühlt sich so an, dass der Atemrhythmus ganz natürlich von sich aus geschieht. Aus einem „ich atme und bewege mich“ wird ein „es atmet und bewegt“. Das Ego tritt in den Hintergrund und das wahre Selbst tritt hervor.

An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass das lateinische Wort „spiritus“ nicht nur „Geist“ bedeutet, sondern auch „Atem“ (das Verb „spirare“ bedeutet „atmen“). „Spiritus sanctus“ kann somit auch im Sinne von „Heiliger Atem“ gedeutet werden – der Atem als Vehikel auf dem Weg der spirituellen Entwicklung.

Sich selbst aufgeben

Im alten Tai Chi-Klassiker von Wang Zongyue (王宗岳) gibt es eine interessante Passage, die oft missverstanden wird. Sie lautet:

本是捨⼰從⼈
Ursprünglich geht es darum, sich selbst aufzugeben und dem anderen zu folgen.

Die Passage bezieht sich offensichtlich auf die Interaktion mit einem Partner, z. B. bei Partnerübungen. Manche deuten den Hinweis so, dass man sich physisch nicht gegen den Kraftimpuls des Gegners stellen soll. Stattdessen soll man nachgeben und dem anderen folgen, also beispielsweise eine Ausweichbewegung machen. Diese Interpretation ist zwar nicht falsch, bewegt sich aber noch zu sehr an der Oberfläche.

Die tiefere Bedeutung ist exakt so, wie es geschrieben steht. Mit ⼰ (ji) ist unser Selbst gemeint, so wie im Wort ziji (自己, Selbst/selber/selbst). Wang Zongyue meint also nicht eine rein körperliche Aktion (nachgeben oder ausweichen), sondern er bezieht sich primär auf die korrekte Geisteshaltung.

Meister Chu King-Hung sagte einmal in einer Privatstunde als Hinweis zu den Partnerübungen:
„If you want to win, you have already lost.“
Gemeint war, dass das Ego nicht dominant sein darf, z. B. in der Form unbedingt gewinnen zu wollen. Dies heißt aber natürlich nicht, dass man sich dem Partner komplett ausliefern und sich aus dem Gleichgewicht bringen lassen soll. Dies würde im Tai Chi mit der Kampfkunst als Ursprung keinen Sinn ergeben.

Die korrekte Geisteshaltung wird Wuxin genannt, in der bekannteren japanischen Form Mushin (無心). Es ist ein Zustand der Leere ohne Ich-Bewusstsein und spielt in allen traditionellen Kampfkünsten eine zentrale Rolle. Auch in der Tai Chi-Traditionslinie von Wang Yongquan gibt es Methoden und Techniken, die gezielt auf den Zustand des Mushin hinwirken.

Der Hinweis „dem anderen folgen“ impliziert noch, dass man aufgrund des eigenen Zustands des Mushin in der Lage ist, die Intention des Partners wahrzunehmen. Auf fortgeschrittenem Niveau „kapert“ man das YiQi des Partners und nutzt es zum eigenen Vorteil.

Ähnlich wie bei der Atmung geht es also auch beim Prinzip des Sich-Aufgebens darum, das Ego in den Hintergrund treten zu lassen, damit das wahre Selbst diesen Raum einnehmen kann. Dies führt direkt zum nächsten Aspekt, der Leere.

Verbindung mit der Leere

Die Geisteshaltung des Mushin hängt eng mit der Leere zusammen. Denn ein effektiver Weg das Ego verschwinden zu lassen, besteht darin, es im Nichts aufzulösen. Wo Leere herrscht, kann kein Ego dominant sein.

Meister Wang Yongquan hat dazu hilfreiche Prinzipien von den Yang-Meistern gelernt und diese an seine Schüler weitergeben. Dazu zählt beispielsweise das Prinzip Song-San-Tong-Kong (鬆散通空). Auch fortgeschrittenere Neigong-Techniken von ihm funktionieren nur, wenn ein ausreichendes Maß an Leere vorhanden ist. Auf diese Weise erhält man beim Üben sofort die Rückmeldung, ob man in der richtigen Richtung unterwegs ist oder nicht.

Des Gefühl der Leere darf jedoch nicht missverstanden werden. Es ist keineswegs ein Gefühl der Kälte oder Passivität. Vielmehr ist man sehr präsent und vital und der Geist kann mit hoher Geschwindigkeit agieren, ohne durch ablenkende Gedanken gestört zu werden.

Das Herz als spirituelles Zentrum

In der chinesischen Lehre der fünf Elemente bzw. Wandlungsphasen (wuxing 五行) gibt es auch eine Zuordnung der Elemente zu fünf geistigen Aspekten. Diese geistigen Aspekte werden wie folgt den Organen zugeordnet:

Die fünf Wandlungsphasen mit ihren Zuordnungen zu diversen Aspekten sind ein Thema für sich, darauf kann hier im Detail nicht näher eingegangen werden. Bezogen auf das Thema Spiritualität ist relevant, dass Shen mit dem Herzen in Verbindung steht. Auf energetischer Ebene wird die Shen-Energie zwar im oberen Energiezentrum (oberes Dantian, shang dantian 上丹田) angesiedelt, aber es gibt auch die Verbindung zum Herzen.

Auch außerhalb der daoistischen Philosophie spielt die Verbindung zum Herzen beim Thema Spiritualität eine wichtige Rolle. Der österreichische Benediktinermönch und Mystiker David Steindl-Rast kleidet dies in wunderschöner Weise in folgende Worte:

So zu horchen heißt, mit dem Herzen horchen, mit dem ganzen Wesen. Herz bedeutet das Zentrum unseres Wesens, in dem wir wahrhaftig eins sind. Eins mit uns selbst, nicht aufgespalten in Verstand, Wille, Gefühle, Körper und Geist, eins mit allen anderen Geschöpfen. Denn das Herz ist der Bereich, in dem wir nicht nur mit unserem innersten Selbst in Berührung sind, sondern gleichzeitig mit dem ganzen Dasein innigst vereint sind.2
David Steindl-Rast

Im Tai Chi nach Wang Yongquan wird in der Praxis ganz bewusst die Verbindung zum Herzen als spirituelles Zentrum hergestellt. Auf diese Weise wird die Formpraxis auf eine feinere und subtilere Ebene gehoben und daraus ergibt sich auch das zentrale Shin-Yi-Qi-Konzept (siehe mehr dazu hier).

Vermeintliche Spiritualität als Egotrip

Das Ego in der Form, wie wir uns normalerweise selbst definieren, ist eine Illusion. Aber diese Illusion kann sehr stark und hartnäckig sein. So als ob man bei einem Theaterstück mitspielt und das Theaterstück so echt wirkt, dass man es für die Realität hält.

Macht man sich nun bewusst auf den Weg, um sich dieser Illusion zu entledigen, kann man sich unter Umständen selbst hinters Licht führen. Das Bestreben das Ego abzulegen kann sich dann ins Gegenteil verkehren und zu einem regelrechten Egotrip werden, wie es der englische Philosoph Alan Watts humorvoll beschrieben hat:

The biggest ego trip going is getting rid of your ego. And the joke of it all is your ego doesn’t exist.
Alan Watts

Dies ist nicht neu, weise Menschen haben bereits vor vielen hundert Jahren darauf hingewiesen.

Der Vorteil von Tai Chi ist, dass der grundsätzlich sanfte und natürliche Ansatz sehr hilfreich ist und Blockaden, die für ein Festhalten an der Illusion des Egos sorgen, nach und nach gelöst werden. Auf diese Weise lässt sich der Prozess der spirituellen Entwicklung gut verarbeiten und die Bewegungen stehen einem stets als erdende Praxis zur Verfügung.

Schlussbemerkung

Sollten Sie bis hier gelesen haben und sich wundern, was denn Tai Chi mit Spiritualität zu tun hat oder wenn Ihnen dieses Thema suspekt vorkommt, können Sie ganz beruhigt sein. Die Tai Chi-Praxis zwingt niemandem etwas auf, die zugrunde liegende Philosophie ist neutral und frei von jeglicher Ideologie. Wer Tai Chi ausschließlich zur Gesunderhaltung oder als Stressausgleich praktizieren möchte, kann dies genau so tun.

Dieser Abschnitt sollte nur darauf hinweisen, dass das Tai Chi auch einen spirituellen Weg in sich birgt. Ob man diesen Weg gehen möchte oder nicht, bleibt jedem selbst überlassen.

  1. Die umgekehrte Atmung wird auch umgekehrte Bauchatmung, Embryonalatmung oder daoistische Atmung genannt. Im Gegensatz zur gewöhnlichen Atmung zieht sich der Unterbauch beim Einatmen ein und dehnt sich beim Ausatmen wieder aus. ↩︎
  2. David Steindl-Rast, „Die Achtsamkeit des Herzens“, Verlag Herder, Taschenbuchausgabe 2021, Seite 14. ↩︎