Zentrierung und Gleichgewicht

Tai Chi und Qigong sind eine hervorragende Schulung für das Gleichgewicht

Der menschliche Körper ist ein Wunderwerk der Natur. Jeden Tag führen wir unzählige Bewegungen aus, ohne dass wir groß auf das Aufrechterhalten des Körpergleichgewichts achten müssen – der Körper kümmert sich unterschwellig automatisch darum. Wer allerdings einmal stärkeren Schwindel hatte, weiß, wie labil dieses System sein kann und wie stark selbst die einfachsten Bewegungen dadurch beeinträchtigt werden können.

Qigong und in noch ausgeprägterer Form Tai Chi sind hervorragende Methoden zur Schulung des Körpergleichgewichts. Dieser Faktor spielt mit zunehmendem Alter eine immer größere Rolle. Bei Menschen über 65 Jahren steigt das Sturzrisiko kontinuierlich an und damit auch die Gefahr von Frakturen wie beispielsweise dem Oberschenkelhalsbruch. Da Frauen verstärkt von Osteoporose betroffen sind, ist bei ihnen auch das Sturzrisiko höher als bei Männern1.

Körperachsen

Warum sind die Tai Chi- und Qigong-Bewegungen so effektiv? Im Abschnitt über die sechs Harmonien wird erklärt, dass verschiedene Körperteile bewusst miteinander in Beziehung gesetzt werden. Dabei spielen die Körperachsen eine wichtige Rolle, damit diese Verbindungen überhaupt zustande kommen.

Als wesentliche Körperachse haben wir unsere zentrale Mittelachse, die vom Scheitel senkrecht nach unten durch den Rumpf verläuft. Im schulterbreiten Stand endet die Achse am Boden genau in der Mitte zwischen den Füßen. Darüber hinaus haben wir aber auch noch seitliche Körperachsen, die rechts und links parallel zur Mittelachse verlaufen. Im schulterbreiten Stand verbinden diese auf der jeweiligen Seite Schulter, Hüfte, Knie und Fuß.

Anfangs ist es empfehlenswert hauptsächlich mit den seitlichen Körperachsen zu arbeiten, da es einfacher ist die Verbindungen herzustellen. Dies erfolgt immer auf der Körperseite, auf der das Gewicht ruht. Ist alles an der richtigen Stelle, sind Körperschwerpunkt und Gleichgewichtspunkt nah beieinander und die Haltung ist sehr stabil. Eine horizontale Hüfthaltung – sprich kein Schiefstand – verstärkt die Zentrierung, da Körperachse und Hüfte in einem rechten Winkel zueinander stehen.

Dies alles in einer statischen Haltung umzusetzen ist gar nicht so schwierig. Aber im dynamischen Bewegungsprozess mit nicht gerade alltäglichen Bewegungen ist es eine komplexe Aufgabe, die Übung erfordert. Belohnt wird man mit einem gut ausgeprägten Körper- und Gleichgewichtsgefühl.

Die Körperachsen lassen sich auch aus dem Yin Yang-Symbol ableiten. Beim herkömmlichen Symbol ist die Achse etwas versteckt, in einer älteren Darstellungsform aber sofort erkennbar. Es ist schön zu sehen, wie sich von der Achse ausgehend diverse Yin Yang-Beziehungen ergeben. In ihrem Zusammenspiel sorgen sie für eine perfekte Austarierung.

Die zentrale Mittelachse (rot) und die beiden parallel dazu verlaufenden Seitenachsen (blau).
Die Achse ist aus dem Yin Yang-Symbol ableitbar (rechts oben mit Hilfslinie), noch deutlicher zu sehen in einer älteren Darstellungsform (rechts unten).

Zentrierung bedeutet Entspannung

Wie eingangs beschrieben, ist der Körper permanent bestrebt das Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Kommen wir einmal unversehens ins Stolpern, reagiert der Körper im Bruchteil einer Sekunde und versucht so schnell wie möglich wieder das Gleichgewicht herzustellen.

Je weniger zentriert die Haltung ist, desto mehr Aufwand muss der Körper betreiben, um im Gleichgewicht zu bleiben. Ist der Kopf zum Beispiel stark nach vorne geneigt, muss die Nackenmuskulatur die ganze Zeit mehrere Kilo Gewicht tragen. Diese Haltung ist heutzutage typisch bei intensiven Smartphone-Nutzern, daher sprechen Orthopäden mittlerweile vom „Handynacken“ (im Englischen „smartphone neck“ oder „tech neck“). Was schätzen Sie, wie stark der Effekt der korrekten bzw. nicht korrekten Haltung bei diesem Beispiel ist?

Bei aufrechter Kopfhaltung (0°-Winkel) muss die Muskulatur lediglich das Kopfgewicht von etwa 5 kg tragen. Bei einem um 15° nach vorne geneigten Winkel sind es bereits 12 kg. Dies steigert sich immer weiter, bis es bei einem Kopfwinkel von 60° sage und schreibe 27 kg werden2. Der Körper macht das alles mit und gibt sein Bestes, um nicht umzufallen. Er meldet es in Form von Anspannungen und Schmerzen.

Im Tai Chi und Qigong ist die Kopfhaltung stets aufrecht, so dass die Nacken- und Schultermuskulatur möglichst gut entspannen kann. In gleicher Weise gilt dies auch für alle anderen Bereiche im Körper, zum Beispiel der Lendenwirbelbereich, die Hüftstellung oder die Haltung der Knie. Es gilt immer das Grundprinzip, dass alle Bereiche optimal miteinander verbunden werden und der Körper insgesamt austariert ist. Denn dann stellt sich für den Körper eine Art Sicherheitsgefühl ein. Er merkt, dass er sehr stabil und verwurzelt ist und lässt unnötige Anspannung los.

Es entsteht ein positiver Zyklus: Die Übungspraxis verbessert die Haltung, so dass der Körper mehr loslassen kann. Das höhere Maß an Lockerheit ermöglicht dann weitere Feinjustierungen in der Haltung, die vorher nicht möglich waren. Dadurch kann der Körper dann noch weiter loslassen, usw. Dieser Effekt macht die Bewegungen im Laufe der Zeit so geschmeidig und rund, was dann auch für Außenstehende beim Zuschauen erkennbar ist.

Die Mitte bewahren

Beim Thema Zentrierung kommt man im Tai Chi nicht um zwei zentrale Begriffe im „Fachjargon“ herum. Der eine Begriff ist zhong ding (中定). Das erste Zeichen ist die „Mitte“ oder das „Zentrum“, das zweite Zeichen bedeutet „fixieren“ oder „bestimmen“. Gemeint ist die Zentrierung bzw. das Zentriertsein, das Körpergleichgewicht. Zhong ding gehört zu den so genannten fünf Schrittarten (wubu 五歩) im Tai Chi. Die Idee ist, dass während der gesamten Tai Chi-Form alle Bewegungen stets zentriert ausgeführt werden.

Der zweite Begriff heißt shou zhong3 (守中) und beschreibt ein wichtiges Prinzip, nämlich stets die Mitte (zhong) zu bewahren (shou). Dieses Prinzip kann man auf verschiedenen Ebenen interpretieren. Auf der rein körperlichen Ebene stimmt es mit zhong ding überein, d. h. wir versuchen uns die ganze Zeit zentriert zu bewegen. Das Körpergleichgewicht darf nicht verloren gehen.

Bezogen auf den Kampfkunst-Aspekt des Tai Chi bedeutet „Die Mitte bewahren“, dass man stets seine zentrale Körpermittellinie verteidigen muss. Der Angreifer darf keinen Zugriff auf die Mittelachse bekommen oder diese gar treffen. Umgekehrt versucht man genau das beim Angreifer zu erreichen, um ihn damit zu kontrollieren.

Das Prinzip kann man aber auch philosophisch interpretieren und es auf das gesamte Leben beziehen. Die regelmäßige Übungspraxis soll dazu führen, dass man sich durch äußere Widrigkeiten nicht so leicht aus dem Gleichgewicht bringen lässt und die eigene Mitte bewahrt. Probleme und Schwierigkeiten lassen sich nicht immer vermeiden. Aber man kann ihnen mit innerer Gelassenheit und Geduld begegnen, ohne sich zu sehr aufreiben zu lassen.

  1. Studien geben Anlass zur Vermutung, dass sich eine regelmäßige Tai Chi-Praxis positiv auf die Knochendichte auswirkt. Frauen profitieren daher besonders: Besseres Körpergleichgewicht und weniger Knochenschwund. Siehe z. B. https://www.health.harvard.edu/womens-health/protect-your-bones-with-tai-chi. ↩︎
  2. Siehe den Artikel unter https://www.cornerstonechiropractic.com.au/blog/tech-neck-is-your-phone-giving-you-a-pain-in-the-neck mit der entsprechenden Abbildung dazu. ↩︎
  3. Auf dieses Prinzip wird bereits im Daodejing verwiesen, wo am Ende des fünften Verses geraten wird, die Mitte zu bewahren. ↩︎