
Der Tai Chi-Meister Wang Yongquan (汪永泉, 1904-1987) hat für einen optimalen Entwicklungsprozess im Tai Chi sieben Anforderungen formuliert, die unten aufgeführt sind. Diese sieben Anforderungen sind von verschiedenen Schülern von Wang Yongquan unabhängig voneinander überliefert worden, z. B. von Zhu Huaiyuan (朱怀元), Wei Shuren (魏树人) und Liu Jinyin (劉金印).
1. Anforderung: Koordination von oben und unten – Keine Bewegung ohne ganzheitliche Bewegung (上下相隨,動無一處不動 shàngxià xiāngsuí, dòng wú yī chǔ bù dòng)
Die Koordination von oben und unten bedeutet, dass der Körper vom Scheitel bis zur Sohle verbunden ist. Die Haltung muss aufrecht sein, damit das YiQi zum Unterbauch sinken kann. Man lässt los und verbindet es mit den vier Gliedmaßen, so dass der gesamte Körper eine Einheit bildet. Die aufrechte Haltung, die Zentrierung und ein Gefühl des Wohlbefindens sollten zu Beginn der Tai Chi-Form hergestellt werden.
Hände und Füße müssen synchronisiert werden – oben und unten bewegen sich gemeinsam als Einheit.
Beim Vor- oder Zurückgehen müssen Hüfte und Taille gleichmäßig gleiten, der Rumpf sollte sich aufrecht und stetig bewegen, wie ein Bootsmast. Eine krumme Haltung oder ein Neigen zur Seite sollten vermieden werden.
Es ist zu vermeiden, nur mit dem Oberkörper zu üben. Es muss sich stets der gesamte Körper bewegen.
Während des Übens können die Arme einmal heruntergenommen werden und man konzentriert sich ausschließlich auf die Körperbewegung. Oder man hält zwischendurch inne, nimmt die Arme herunter und prüft, ob die Körperbewegung den Anforderungen entspricht.
2. Anforderung: Verbindung von innen und außen (內外相合 nèiwài xiānghé)
Das innere Qi (内氣 nèiqì) muss in die äußere Form integriert werden. Jede Haltung muss vom inneren Qi unterstützt werden. Das Yi führt das Qi und das Qi bewegt den Körper. Das innere Qi führt die äußere Bewegung, nicht umgekehrt. Dieser Punkt muss klar verstanden werden, ansonsten können verschiedene Probleme auftreten und möglicherweise die Gesundheit gefährden.
Wenn die Praxis nur aus schwingenden Armen oder tretenden Beinen besteht, ist dies nicht Tai Chi. Innere und äußere Bewegung dürfen nicht aufeinander warten oder isoliert stattfinden. Es sollten gewährleistet werden:
– die drei inneren Harmonien (内三合 nèi sān hé): Harmonie von Shen (神), Yi (意) und Qi (氣)
– die drei äußeren Harmonien (外三合 wài sān hé): Koordination der Schulter mit der Hüfte, der Ellbogen mit den Knien und der Hände mit den Füßen1
Nur mit der Verbindung von Innerem und Äußerem entsteht eine wahrhaftige Tai Chi-Praxis. Ohne diese Verbindung wird selbst ein lebenslanges Training keine wirklichen Fähigkeiten hervorbringen.
3. Anforderung: Verbindung von oben und unten und innen und außen (內外相合的上下相合 nèiwài xiānghé dì shàngxià xiānghé)
Bei der Verbindung von innen und außen muss die erste Anforderung der Koordination von oben und unten beibehalten werden. Dies bedeutet, dass nicht nur Qi und Form harmonisieren müssen, sondern dass sich der gesamte Körper vom Kopf bis zu den Füßen als Einheit bewegen muss.
4. Anforderung: Aufsplittern der Form (拆架子 chāi jiàzǐ)
Die Tai Chi-Form ist ein Bewegungsablauf, der von den Vorfahren aus verschiedenen Kampftechniken zusammengestellt wurde. Keine Form ist absolut unveränderlich. Man kann sie während des Trainings anpassen, sofern die Änderungen die Tai Chi-Prinzipien erfüllen.
Man kann sich auf das Training bestimmter Energien wie Peng, Lu, Ji usw. konzentrieren, d. h. in jeder Haltung wird eine bestimmte Energieart geübt.
Jede Haltung kann als Pfahl2 (樁 zhuāng) geübt oder einzeln oder in Kombination mit anderen Haltungen als Drill praktiziert werden.
Beim Training wird zwischen Gesunderhaltung und Kampfkunst unterschieden. Gesundheitsform und Kampfform verwenden die gleiche Bewegungssequenz, nur die Trainingsmethoden sind unterschiedlich.
Gesunderhaltung
Die Bewegungen sind definiert, mit Anforderungen an die Ausgangsposition, den Weg der Bewegung, die Endposition und den Übergang zur nächsten Bewegung. Ist man mit den Haltungen ausreichend vertraut, sollte man entsprechend der bereits genannten zweiten Anforderung die Bewegungen mittels innerem Qi üben. Dadurch werden nicht nur Sehnen, Knochen und Haut äußerlich trainiert, sondern auch reichlich innere Energie kultiviert, was für die Gesunderhaltung von großem Nutzen ist. Wenn die Bewegung mit innerem Qi versorgt wird, erzeugt dies Können (d. h. Technik). Dies ist die „Fähigkeit sich selbst zu kennen“ (知己之功 zhījǐ zhī gōng).
Kampfkunst
Die kämpferischen Fähigkeiten werden als Reaktion auf Angreifer eingesetzt, wobei es zwei Arten von Fähigkeiten gibt: Methode (招 zhāo) und Technik (術 bzw. 术 shù). Die Methode ist greifbar und hat Form, die Technik ist nicht greifbar und ist formlos. Jede Methode, die auf der Überwältigung des Gegners beruht, ist das Ergebnis erworbener Kraft, unbeholfen und unflexibel in ihren Varianten. Diese Art der Kampfmethode ist mit dem Langen Boxen (長拳 chángquán) vergleichbar. Zum Beispiel kontrolliert eine bestimmte Methode die Haltung und die Bewegungen des Gegners. Die manifestierte Kraft ist greifbar und man setzt die eigene äußere Form ein, um die äußere Form des Gegners zu kontrollieren.
Die zweite Art ist die Technik. Die Technik ist nicht greifbar, sie ist eine innere Fähigkeit. Sie ist eine Verschmelzung von Shen, Yi und Qi3 und nicht eine Konzentration auf Shen, Yi und Qi. Bei der Technik geht es darum, Shen, Yi und Qi vollständig zu kultivieren und dies zu nutzen, um in den Körper des Gegners einzudringen, ihn zu infiltrieren und zu beeinflussen, damit er seine Mitte verliert, um dann zuzuschlagen.
5. Anforderung: Zerteilen der Hände (拆手 chāishǒu)
Beim Üben der Form für die Gesundheit (Fähigkeit sich selbst zu kennen) geben die Hände die Richtung vor und führen das innere Qi. Ob eine Haltung korrekt ist und das Qi angenehm fließt oder nicht, spiegelt sich in den Händen wider.
Die Hände müssen flexibel und reaktionsfähig und dürfen nicht in festen Mustern verhaftet sein. Daher heißt es in den Tai Chi-Klassikern „Die Hände ohne feste Richtung, der Körper ohne feste Form“ (手無定向,身無形). Auch wenn es keine festgelegte Handhaltung gibt, erfolgen die Bewegungen in einem definierten Raum. Es sind keine willkürlichen Bewegungen.
Alle Handbewegungen müssen im Einklang mit den Prinzipien der Gesunderhaltung stehen, insbesondere mit den Methoden des nährenden und zerstreuenden Qi. Die Qualität der Praxis zeigt sich vollständig in den Händen.
Beim Üben der Form für den Kampf (Fähigkeit den anderen zu kennen) sind die Hände noch wichtiger. Bei Kontakt müssen sie unverzüglich „hören“ (聽 tīng), „verstehen“ (懂 dǒng), „neutralisieren“ (化 huà) und „fragen“ (問 wèn). Dies sind nicht greifbare Fähigkeiten, bekannt als „Technik“ (術 shù).
Nur mit diesen Fähigkeiten der Hände verwirklicht man Leichtigkeit und beliebige Anpassungsfähigkeit.
Irgendwann einmal kann man das Niveau erreichen, das in den Tai Chi-Klassikern als „Gottheit“ (神明 shénmíng) bezeichnet wird – die höchste Stufe der Meisterschaft. Auf dieser Stufe ist man in der Lage, im Moment des Kontakts die Intention des Gegners zu spüren. Dies nennt man „Verstehende Energie“ (懂勁 dǒng jìn).
6. Anforderung: Differenzierung der Energie (分勁 fēnjìn)
Innere Kraft (内勁 nèijìn) und äußere Kraft (力 lì) sind zwei völlig unterschiedliche Dinge. Die innere Kraft, auch als Tai Chi-Kraft (太極勁 tàijí jìn) bekannt, ist die Verschmelzung von Shen, Yi und Qi. Es ist nicht die bloße Konzentration auf Shen, Yi und Qi.
Oft wird die Kraft in der Weise missverstanden, dass man das eigene Shen, Yi und Qi auf einen einzelnen Punkt konzentriert und diese konzentrierte Kraft dann auf eine bestimmte Bewegung oder Haltung anwendet. Nach einer längeren Übungszeit entsteht dadurch eine spezielle Art der Kraft, die als „nachgeburtliche Kraft“ (後天之拙力 hòutiān zhī zhuōlì) bezeichnet wird.
Diese Art der Kraft ist raumgreifend in der Form, schwerfällig in der Bewegung und langsam bei Änderungen. Ihre Energie bewegt sich geradlinig. Bei Anwendungen im Kampf unterbricht sie aufgrund der großen und kraftvollen Körperbewegungen oft den inneren Fluss des Qi, was zu Unruhe und Anspannung führt. Diese Trainingsmethode ähnelt mehr dem „Langen Boxen“ (長拳 chángquán).
Als Tai Chi-Anfänger kann man unter Umständen den Eindruck bekommen, dass die oben genannte Trainingsmethode auch für das Tai Chi gilt. Aber dies ist nicht der Fall. Wenn man den Tai Chi-Theorien folgt und korrekt praktiziert, wird man im Laufe der Zeit merken, dass die oben beschriebene Trainingsmethode nicht mit den Tai Chi-Prinzipien übereinstimmt.
Die korrekte Tai Chi-Praxis besteht in der Verschmelzung von Shen, Yi und Qi zu einem Ganzen. Diese Verschmelzung bringt eine Kraft hervor, die leicht, agil, rund und lebendig ist. Diese Kraft wird wesentlich durch das Zusammenspiel von Yi und Qi gesteuert. Ihre Essenz ist Qi und die Anforderungen sind Leerheit (空 kòng), Leere (虚 xū) und Ausbreitung (散 sàn) statt Ansammlung oder Komprimierung. Dies ist die wahre Tai Chi-Kraft, sie wird „vorgeburtliche Kraft“ genannt (先天勁 xiāntiān jìn).
Die Bewegungen des Körpers dienen dazu, die innere Kraft zu führen und zu lenken, so dass sie natürlich und frei von Hindernissen fließen kann.
Bei einer Anwendung im Kampf erscheint diese Kraft nur für einen kurzen Moment, wenn es notwendig ist. Man darf die Kraft nicht willkürlich während des regulären Trainings freisetzen. Dies könnte negative Auswirkungen auf die Gesundheit haben.
Wenn man diese Kraft anwendet, sollte man sie nicht direkt in eine bestimmte Bewegung oder Haltung senden, um sie punktuell einzusetzen. Wenn man dabei auf eine starke Gegenkraft trifft, kann die innere Energie in den eigenen Körper zurückprallen und potentiell innere Verletzungen verursachen.
Die äußeren Bewegungen müssen mit den entsprechenden inneren Energien geübt werden. So muss die Peng-Haltung mit der Peng-Energie oder die Ji-Haltung mit der Ji-Energie ausgeführt werden. Danach kann man die Bewegungen auch mit den jeweiligen anderen inneren Energien kombinieren. Die in einer bestimmten Bewegung eingesetzte Energieart ist anpassungsfähig, reagiert auf den Gegner und ist äußerst variabel. Die Kombination der acht Grundtechniken mit den acht inneren Energien ergibt 64 Neijing-Varianten4.
7. Anforderung: Eintritt in das Reich der Transformation (入化境 rù huà jìng)
Der Eintritt in das Reich der Transformation ist die fortgeschrittene Stufe der Tai Chi-Praxis. Um diese Stufe zu erreichen, muss man alle notwendigen Anforderungen und Übungsmethoden umfänglich begreifen und meistern:
– Unterscheidung von Fülle und Leere
– Koordination von oben und unten
– Verbindung von innen und außen
– Unterscheidung von Technik und Methode
– Unterscheidung von Öffnen und Schließen
– Unterscheidung von Haltung und Energie
– Unterscheidung von Selbstkenntnis und Kenntnis des anderen
– Unterscheidung von Nährendem und Schadendem
Wenn man die greifbaren Methoden vollständig verstanden hat und diese anschließend mit den nicht greifbaren Techniken verschmolzen sind, tritt man in einen Zustand ein, in dem man gleichzeitig existiert und nicht existiert – Sein ist Nichtsein, Nichtsein ist Sein (有即是無、無即是有).
Man befolgt die Regeln und transzendiert sie. Wenn man sie transzendiert, kehrt man zu ihnen zurück. Auf dieser Stufe ist der Körper leer und ungehindert, reaktionsfähig in Stille und in Bewegung, ohne Form und Gestalt und vollständig transparent.
Als Resultat wird der Geist in natürlicher Weise genährt, Krankheiten werden abgehalten und Langlebigkeit wird gefördert.
Allerdings kann man erst nach langer und intensiver Praxis anfangen zu verstehen, welche tiefe Bedeutung der Eintritt in das Reich der Transformation hat. Dies kann nicht ansatzweise mit Worten beschrieben werden – es muss von Herz zu Herz mündlich von einem Meister unterrichtet werden.
- Zu den sechs Harmonien gibt es hier einen eigenen Abschnitt. ↩︎
- Gemeint ist das Üben einer Haltung aus der Tai Chi-Form wie beim „Stehen wie ein Pfahl“ (站樁 zhàn zhuāng), d. h. man verweilt eine gewisse Zeit in der Haltung. ↩︎
- Zum Konzept von Shen, Yi und Qi gibt es hier einen eigenen Abschnitt. ↩︎
- Zu den 64 Neijing-Übungsmethoden siehe hier. ↩︎
© Tai Chi Schule Gunnar Siebel 07/2025.